Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

"Nicht mit mir"
Kinderwunden und männliche Gefühle

Der norwegische Autor Per Petterson ist auch in seinem neuen Buch seinem bisherigem Muster der Vater-Sohn-Beziehung treu geblieben. Aber in "Nicht mit mir" geht es auch um die Beziehung zur Mutter - und um eine Kinderfreundschaft. Petterson gelingt es, daraus kein plakatives Sozialdrama zu machen, meint unsere Rezensentin.

Von Antje Rávic Strubel | 29.07.2015
    Zwillingsschwestern stehen am 05.09.2013 im Gegenlicht der Sonne auf dem Raschplatz in Hannover (Niedersachsen).
    Per Petterson schreibt in "Nicht mit mir" über Freundschaft und seelische Narben aus der Kindheit (picture-alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Das eigene Leben hängt nicht immer von der eigenen Entscheidungsgewalt ab. Hätte Jim, eine der beide Hauptfiguren im neuen Roman von Per Petterson, diese Entscheidungsgewalt gehabt, hätte die Freundschaft, die ihn seit der Kindheit mit Tommy verbindet, lebenslang dauern können. So aber zerbricht sie aufgrund einer Panikreaktion. Beim Schlittschuhlaufen auf dem See kracht das Eis so heftig, dass Jim sich vor Angst am Körper seines Freundes Tommy abstößt, um das Ufer zu erreichen. Der Freund wird zurückgeschleudert und fällt hin. Das Eis reißt an diesem Tag nicht auf, aber etwas in Jims Psyche. Für ihn ist klar: Er hätte seinen Freund dem Tod ausgeliefert, um sich selbst zu retten. Nach einem Selbstmordversuch landet er in der Psychiatrie.
    "Nicht mit mir" ist ein typischer Petterson-Roman. Es geht um jene unvorhersehbaren und oft unspektakulären Momente, in denen das Leben aus der Bahn gerät und darum, wie man für die restliche Zeit damit fertig wird. Es geht um Wunden aus der Kindheit, die das Erwachsenleben immer wieder stören, und es geht vor allem um männliche Gefühlswelten. Väter, die ihre Familie verlassen, und Söhne, die lebenslang mit dieser Trennung zu kämpfen haben, sind eines der großen Themen des derzeit erfolgreichsten norwegischen Schriftstellers. Bereits in "Pferde stehlen" geht es um eine Vater-Sohn-Beziehung, die früh zerbricht. Der Sohn empfindet noch als alter Mann schmerzhaft die Leerstelle, die der Vater im Kind hinterlassen hatte.
    Im neuen Roman verlässt eine Mutter die Familie. Tya Berggren aus einem kleinen Ort in der Nähe von Oslo lässt sich in einer verschneiten Nacht kurz vor Weihnachten heimlich von einem Nachbarn in die norwegische Hauptstadt fahren, wo sie auf einem Frachter nach Asien anheuert und nie zurückkehrt. Sie hinterlässt vier kleine Kinder. Siri, die älteste, ist dreizehn, Tommy zwölf. Die Mutter geht, weil sie ihren gewalttätigen Mann, einen Müllfahrer, nicht mehr erträgt, vielleicht die ganze Enge dieses familiären Elends nicht. Die Hintergründe bleiben bei Per Petterson im Vagen. Denn der Roman handelt von der Wirkung, die die Abwesenheit der Mutter und die Gewalt des Vaters auf die Kinder haben, besonders auf Tommy.
    Geschwister bleiben sich allein überlassen
    Schließlich lässt auch der Vater die Familie im Stich, nachdem sich der 14-Jährige zum ersten Mal gegen die väterliche Brutalität zur Wehr setzt. Mit einem Schlagholz schlägt der Sohn dem Vater das Bein kaputt, der daraufhin verschwindet. Die Kinder bleiben sich selbst überlassen, bis das Sozialamt die Geschwister auseinanderreißt. Ein Nachbar nimmt Tommy auf, in dessen Sägewerk der Junge später eine Arbeitsstelle finden wird. So kann er in der Nähe seines Freundes Jim bleiben. Auch Jim ist ein versehrtes Kind. Er wächst bei seiner streng religiösen Mutter auf, den Vater hat er nie gesehen.
    35 Jahre später begegnen sich die beiden Freunde zufällig wieder. Mit dieser Begegnung beginnt der Roman. Tommy ist mittlerweile ein erfolgreicher Investmentbanker. Jim dagegen hat seinen Bibliotheksjob verloren, weil das Ereignis auf dem See ihn mit psychischen Problemen einholt, diese frühe Erfahrung, dass man sich selbst der Nächste ist. In den Morgenstunden angelt der arbeitslose Jim von einer Brücke aus, die über einen Fjord führt. Auf der anderen Seite lebt Tommy in einer teuren, aber herzlos eingerichteten Villa, und als er eines Morgens im Mercedes über die Brücke zur Arbeit fährt und sich beide erkennen, löst dieses Wiedersehen eine Kaskade von Erinnerungen aus.
    Erzählung in tagebuchartigen Kapiteln
    Erzählt werden sie in tagebuchartigen Kapiteln, mal aus Tommys, mal aus Jims Perspektive. Tommys Schwester Siri, die ebenfalls kurz zu Wort kommt, wird sich später ihrem Bruder und auch Jim entfremden, mit dem sie eine kurze Liebesgeschichte verbindet. Das trostlose Schicksal der Mutter wird behelfsweise über den Nachbarn und später über den Proviantmeister des Schiffes erzählt, auf dem die Mutter anheuert. Wer Pettersons Bücher kennt, dem ist aber vor allem eine Technik vertraut: Kindheitserinnerungen werden in eine gegenwärtige, sich langsam entfaltende Lebenssituation hineinmontiert. Erzählt wird davon, wie der erwachsene Jim das Arbeitsamt besucht und ihm mitgeteilt wird, sein Jahr Arbeitslosengeld laufe ab, und wie er danach mit eisiger Ruhe einen Selbstmordversuch vorbereitet, der dem ähnelt, den er in seiner Jugend verübte. Erzählt wird davon, wie Tommy einen Anruf von der Polizei bekommt und seinen verhassten Vater aus dem Polizeigewahrsam abholen muss, nach Jahrzehnten, in denen er diesen Vater nicht mehr gesehen hat. Davon, wie Jim schlaflos mit dem Auto durch die Gegend fährt und Tommy sich in einem Schnellrestaurant in eine Frau verliebt. Das Wiedersehen führt beide Männer nicht nur zu den Anfängen ihrer Freundschaft und in die 1960er-Jahre zurück, sondern markiert entscheidende Wendepunkte in ihrem gegenwärtigen Dasein. Und wie beiläufig entstehen durch diese Montage von Erinnerung und Gegenwart die komplexen Porträts zweier Menschen.
    An die Orte ihrer Herkunft gefesselt
    Petterson schreibt in scheinbar einfachen, ausbalancierten Sätzen, die Ida Kronenberg in ein klangvolles, rhythmisches Deutsch gebracht hat. Es ist ein Erzählen, dass sich Zeit lässt. Seine Figuren erschließen sich über ihr Handeln und über die Orte, die die Koordinaten ihres Alltags darstellen; die Tankstelle im Dorf, das Einkaufszentrum, die Polizeistation, der Bahnhof. Sie erschließen sich aber auch über ihre Wahrnehmung der nördlichen Landschaft, die Petterson so beschreibt, als bilde sich die Psyche der Figuren darin ab. Es sind einfache Menschen mit untergründigen, aber starken Sehnsüchten. Petterson legt sie offen, indem er ihren zuweilen irrationalen Handlungen nachgeht. Nur einer seiner Figuren gelingt der Ausbruch aus der engen Welt. Siri, die Schwester, wagt sich als Einzige über die Landesgrenzen hinaus, und zwar auf glücklicheren Wegen als ihre Mutter. Sie arbeitet für Kinderhilfsprojekte in Entwicklungsländern. Tommy und Jim dagegen sind an die Orte ihrer Herkunft gefesselt. Tommy entdeckt schließlich die Liebe, während Jim nur im Freitod einen Ausweg sieht.
    Pettersons Stil ist auch in diesem Roman konkret und doch vage genug, um aus dem zuweilen überfrachtet wirkenden Inhalt kein plakatives Sozialdrama zu machen. Allerdings kann er das Pathos hier nicht immer vermeiden, und zuweilen schrammt dieser Roman, der als sein bisher erfolgreichster gilt, nur knapp am Kitsch vorbei, dann nämlich, wenn eine Figur ins Stereotype gerät und die gewichtige Schlichtheit der Sätze zu groß für das Erzählte wird.

    Per Petterson:
    Nicht mit mir
    aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger, Hanser Verlag, Berlin, 286 Seiten, 19,90 Euro