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Nicht nur ein Schwulenmanifest

Michal Witkowski, geboren 1975 im polnischen Breslau, ist ein Homosexueller mit ausgeprägtem Bedürfnis nach öffentlichen Bekenntnissen. Bekenntnissen, die in seinem immer noch klerikal geprägten Heimatland die Kraft einer politischen Provokation besitzen. Zugleich gilt Witkowski als Star der jungen polnischen Literaturszene. Seinen Roman "Lubiewo" rühmten Witkowskis Fans als Manifest der polnischen Schwulenbewegung.

Von Martin Sander | 14.02.2008
    "In Polen benutzt man das Wort "Gay" oft als Synonym für "Homosexueller". Für mich ist ein Gay aber ein Homosexueller, der an einer von Marktgesetzen gesteuerten Gay-Kultur teilnimmt - mit ihren Paraden, Bars, dem Fitnesszentrum, mit allen Büchern, Filmen, also mit diesem ganzen Rahmen à la Nollendorfplatz in Berlin. Wenn jemand hingegen ein normales Leben führt, mit normalen Menschen verkehrt, dabei aber einfach Männer liebt, ist er noch lange kein Gay. Also ich kann mich mit so einer Gay-Identität nicht abfinden, weil das eine Gruppenidentität ist. Und ich bin Individualist."

    Michal Witkowski, geboren 1975 im polnischen Breslau, ist ein Homosexueller mit ausgeprägtem Bedürfnis nach öffentlichen Bekenntnissen - Bekenntnissen, die in seinem immer noch klerikal geprägten Heimatland die Kraft einer politischen Provokation besitzen. Zugleich gilt Witkowski als Star der jungen polnischen Literaturszene. Seinen Roman "Lubiewo", der unlängst in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erschienen ist, rühmten Witkowskis Fans als Manifest der polnischen Schwulenbewegung, während sich konservative Kritiker geradezu in Rage schrieben. Beides festigte den Ruhm des Autors. Dabei ist der Stoff eigentlich nicht neu. Polen ist zwar ein Land, das von internationalen Menschenrechtsorganisationen gern als schwulenfeindlich an den Pranger gestellt wird. Doch verfügt es zumindest im 20. Jahrhundert über eine reiche literarische Tradition, in der homosexuelle Phantasien einen festen Platz einnehmen - sei es verhüllt wie in den Büchern von Jerzy Andrzejewski oder Jaroslaw Iwaszkiewicz, sei es in der Form eines offensiven philosophischen Diskurses wie bei Witold Gombrowicz. Allerdings blieben Andrzejewski, Iwaszkiewicz oder Gombrowicz mit ihrer Literatur Teil einer Salonkultur, deren Wert heute auch von Nationalkonservativen nicht in Bausch und Bogen verworfen wird.

    Anders stellt sich der Fall des jungen Erzählers Michal Witkowski dar. Denn er führt seine Leser vom Salon auf die Straße. In einem überaus derben Realismus zeigt er das schwule Leben auf der Straße, in Parkanlagen, im öffentlichen Pissoir. Im Mittelpunkt stehen alternde Tunten, die dem jungen Erzähler von ihrem Alltag in der Spätzeit des kommunistischen Polen erzählen.

    ""In der Kommune einen Rekruten im Zug aufreißen, das war ein Kinderspiel ... Nicht nur, dass all diese Staszeks und Romeks frisch vom Lande kamen - damals gab es auch noch keine Mädchen in der Armee, keinen Freigang ... Als ich jetzt zum ersten Mal von der 'Humanisierung der Armee' hörte, da wusste ich sofort, dass den Tunten schlimme Zeiten bevorstehen. Weil jetzt jeder Rekrut praktisch unbeschränkten Zugang zur Muschi hat." - Lukrecja heult. Plötzlich richtet sich Patrycja auf und fragt mit hoffnungsvoller Stimme:
    "Aber vielleicht überfällt uns noch mal jemand, Lukrecja, was meinst du? Vielleicht okkupieren uns die Deutschen?!"
    Patrycja hatte offensichtlich noch nie von der Nato gehört."

    Patrycja und Lukrecja bilden ein schwules Paar, das sich in einer Mischung von nostalgischer Sehnsucht und Bitterkeit an eine längst vergangene Jugend erinnert. Sie leben abseits der neuen polnischen Konsumgesellschaft in einer heruntergekommenen Breslauer Plattenbauwohnung. Patrycja und Lukrecja gehören zum Kernbestand von Witkowskis teils tragisch, teils skurril, stets aber authentisch wirkender Figurenwelt. Dazu gehören auch Jessica, der HIV-infizierte Krankenpfleger, oder die männlichen Pensionistinnen, die sich am Ostseestrand von Lubiewo treffen.

    Witkowskis Roman ist eine bizarre Komposition aus Erinnerungen, Miniaturen, Klosprüchen und Mailbotschaften. Der Erzähler hält die Fäden als neugieriger Reporter zusammen. Er berichtet lakonisch, überlässt das Wort nur zu oft seinen Protagonisten. Seine Welt ist halb dokumentiert, halb kreiert. Voyeurismus mischt sich mit Selbstbezichtigung. Dieser Erzähler hat tiefes Verständnis für die Skepsis seiner Helden gegenüber der spätkapitalistischen Moderne, auch wenn hier Homosexuelle als Teil einer alle gesellschaftlichen Vorurteile sprengenden Konsumkultur zunehmend willkommen sind.

    "Sie haben dieses Gay-Leben von heute nicht gelernt. Damals bestand ihre ganze Existenz aus Ausweichmanövern, aus Konformismus, etwa dergestalt, dass man ganz unauffällig seiner Arbeit nachging - als Priester oder Lehrer - und man dann nach der Arbeit etwas ganz anderes erzählte. Jetzt muss man sich plötzlich emanzipieren, in eine dieser Bars gehen und einfach die Regeln der liberalen kapitalistischen Welt befolgen."

    Doch die neue mächtige Gegenwelt lässt sich nicht ignorieren. Das tut auch Witkowski in "Lubiewo" nicht. So lässt er auch zeitgeistkonforme Homosexuelle auftreten, die sich mit einer Art Gesundheitskult umgeben, ihre sexuellen Bedürfnisse in den Chatrooms des Internets sublimieren und in jeder Hinsicht dem Einfluss der Werbeindustrie erlegen sind. "Intertunten" nennt sie der Erzähler.

    Michal Witkowskis "Lubiewo” ist gewiss nicht nur ein Schwulenmanifest. Es ist vor allem eine bemerkenswerte literarische Sozialstudie. Mit dem ebenso originellen wie untrüglichen Blick von Außenseitern wird die repressive Uniformität einer liberalen Gegenwart enthüllt. Dieses Verfahren des polnischen Autors dürfte wohl in jedem europäischen Kontext seine Wirkung entfalten. In der deutschen Fassung ermöglicht die gelungene, bis in die Feinheiten des Jargon sensible Übertragung von Christina Marie Hauptmeier eine spannende Lektüre.