Freitag, 29. März 2024

Archiv


Nicht nur für Freunde der italienischen Oper

Franz Schubert wird heute vor allem als Experte für das Dunkle wahrgenommen, für die Abgründe der Existenz, für Einsamkeit, Schmerz und Tod. Seine Musik trage "permanenten Trauerrand", wurde dem Österreicher gar nachgesagt. Für seine 6. Sinfonie zumindest gilt das ganz und gar nicht.

Am Mikrofon: Ludwig Rink | 14.04.2013
    Heute soll an dieser Stelle die Rede sein von einer Sinfonie, die der Komponist als "Große Sinfonie in C" überschrieb, die von heutigen Konzertveranstaltern aber als "Kleine Sinfonie in C" angekündigt wird; von einer Sinfonie, die von dem einen Kritiker als "trivial" und "reizlos", von einem anderen als "graziös" und "reizvoll" empfunden wurde. Für manche ist sie der Beleg für eine angebliche Beethoven-Abhängigkeit des Komponisten, andere sehen in ihr ganz im Gegenteil die Emanzipation von diesem großen Sinfonik-Titanen. Es geht um die 6. Sinfonie von Franz Schubert, die jetzt in einer Neuaufnahme mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter der Leitung von Roger Norrington beim Plattenlabel hänssler classics erschienen ist.

    Franz Schubert
    1. Satz, langsame Einleitung aus: Sinfonie Nr. 6 C-Dur
    aus Track <1> ab 0‘00
    Dauer: 1‘17
    Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
    Leitung: Roger Norrington
    LC 10622 hänssler classic
    CD 93.298


    Ob die Sechste von Schubert eine große oder eine kleine Sinfonie ist – das ist, wie so oft, eine Frage der Perspektive. Als Schubert sie im Alter von 21 Jahren komponierte, war sie für ihn vermutlich schon deshalb groß, weil er hier Blech und Schlagwerk, genauer gesagt Trompeten und Pauken einsetzte. Spätere Generationen, die an Werke von Wagner, Bruckner, Mahler oder Strauss und deren oft riesenhafte Orchester gewöhnt waren, kam der Umfang der für Schuberts Musik nötigen Besetzung naturgemäß eher klein vor. Und Schubert selbst tat ein Übriges, um das "groß" zu relativieren, als er später mit seiner 8. Sinfonie vor allem, was die zeitliche Ausdehnung angeht, einen Maßstab setzte, an dem gemessen die Sechste nur noch "klein" erscheinen konnte. Diese wirklich große 8. Sinfonie war es übrigens auch, die dazu führte, dass der lange Zeit vor allem als Meister von Liedern, Klavierstücken und Kammermusik bewunderte Franz Schubert überhaupt als Sinfoniker wahrgenommen wurde – das war lange nach seinem Tod und ist vor allem Robert Schumann zu danken.

    Und erst Ende des 19. Jahrhunderts wagte es ein Londoner Konzertveranstalter, Schuberts Sinfonien als Zyklus aufzuführen. Angeregt wurde er dazu von George Groves, jenem britischen Musikschriftsteller, dessen Initiative wir auch die Herausgabe des umfangreichsten und bedeutendsten Musiknachschlagewerks in englischer Sprache verdanken. In England wurden damals also alle acht Schubert-Sinfonien aufgeführt, und es wird vermutet, dass dabei die ersten drei Sinfonien sogar zum ersten Mal überhaupt öffentlich erklangen. Auch bei der Uraufführung seiner Sechsten vor einem größeren Publikum lebte Schubert schon nicht mehr. Wie die Fünfte hatte er sie für ein Wiener Liebhaberorchester komponiert, in dem er selbst als Viola-Spieler mitmachte. In diesem kleinen Rahmen konnte er Neues ausprobieren, Partituren und Stimmen mit den anderen Musikern durchsprechen und einstudieren und hier und da etwas verändern. Nach der bereits gehörten bedächtigen Einleitung überrascht Schubert im 1. Satz seiner Sechsten mit einem Thema, das nicht so sehr von Beethoven, sondern eher aus Joseph Haydns Militärsinfonie stammen könnte. Es klingt nicht bedrohlich-dramatisch, nicht wirklich kriegerisch. Vielmehr scheint hier eine Armee von Zinnsoldaten durchs Kinderzimmer zu marschieren. Heutige Klassikfreunde werden beim Hören dieser Musik vielleicht noch eher an Tschaikowskys Nussknacker-Suite denken als an Haydn.

    Franz Schubert
    aus: Sinfonie Nr. 6 C-Dur, 1. Satz
    Beginn des Allegro
    Track <1> ab 1’47 bis 3‘27
    Dauer: 1‘35
    Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
    Leitung: Roger Norrington
    LC 10622 hänssler classic
    CD 93.298


    Mit Hunderten von Liedern hat Schubert es bewiesen: Er ist mit Abstand der kreativste Komponist der Musikgeschichte, wenn es um die Erfindung schöner Melodien geht. Auch der ruhige zweite Satz seiner 6. Sinfonie bietet ein weiteres schönes Beispiel für eine ebenso einfache und eingängige wie genial-aparte Melodie.

    Franz Schubert
    aus: Sinfonie Nr. 6 C-Dur
    2. Satz, ab 3’46 bis Ende
    Track <2>
    Dauer: 2‘08
    Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
    Leitung: Roger Norrington
    LC 10622 hänssler classic
    CD 93.298


    Heutzutage wird Schubert vor allem als Experte für das Dunkle wahrgenommen, für die Abgründe der Existenz, für Einsamkeit, Schmerz, Liebeskummer und Tod – seine "Winterreise" scheint für ihn typischer zu sein als sein "Forellenquintett". Der Pianist Alfred Brendel drückt es so aus: "Früher war Schubert herzig und leichtsinnig; heute muss er offenbar ganz und gar depressiv sein, und seine Musik trägt einen permanenten Trauerrand." Für seine 6. Sinfonie gilt das sicher nicht, schon gar nicht für das Scherzo, den dritten Satz. Hier sind dann nun wirklich Parallelen zu Beethovens 1. Sinfonie von 1800 auszumachen, zum dortigen Menuett: ganz ähnlich wie der aus Bonn stammende Meister nutzt Schubert hier sieben Jahre später die Energien des Auftaktes und treibt ein übermütiges Spiel mit wild in allen Stimmen verteilten überraschenden Akzenten.

    Franz Schubert
    aus: Sinfonie Nr. 6 C-Dur
    3. Satz ab 5’04 bis Ende
    Track <3>
    Dauer: 1‘30
    Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
    Leitung: Roger Norrington
    LC 10622 hänssler classic
    CD 93.298


    Kurz vor Entstehung von Schuberts 6. Sinfonie war Gioacchino Rossini nach Wien gekommen und feierte dort mit seinen Opern Riesenerfolge. Es brach ein regelrechtes Rossini-Fieber aus, dem sich Schubert genauso wenig wie Beethoven entziehen konnte. Der letzte Satz der 6. Sinfonie legt davon deutlich Zeugnis ab: Hier scheinen wir mitten drin in einer italienischen Oper. Fast wie ein Potpourri ist der Satz angelegt, eine Melodie reiht sich an die andere, so als sollten hier wie in einer Ouvertüre alle möglichen Personen der Handlung vorab schon einmal kurz vorgestellt werden. Und am Ende dann eine überdimensionierte Coda, die alles und jedes noch einmal meint bestätigen und unterstreichen zu müssen. Die meisten Dirigenten gehen dieses Tschingdarassabumm mit hohem Tempo an, was den modischen, opernhaften Schwung des Ganzen noch einmal verstärkt.

    So schaffte Yehudi Menuhin seinerzeit mit der Sinfonia Varsovia den Satz in rekordverdächtigen 8’21; Marc Minkowski brauchte in seiner im letzten Jahr veröffentlichten Aufnahme mit seinen Musiciens du Louvre immerhin schon fast zehn Minuten. Norrington lässt es in der neuen Aufnahme mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart noch einmal deutlich ruhiger angehen und kommt auf fast elf Minuten. Damit nimmt er die Tempobezeichnung "Allegro moderato" beim Wort und gibt dieser Musik ein ganz anderes Aussehen. Nicht der temperamentvolle, mitreißende Strudel der italienischen Opera buffa steht hier im Vordergrund, sondern trotz des relativ schnellen Tempos noch ein Hauch von Gelassenheit, von jener vielleicht typischen wienerischen "Gemütlichkeit". Auch der Hang zum immer gleichen, zum Noch-einmal-sagen, zur Reihung und Wiederholung scheint durchaus typisch zu sein für das Österreichische in der Musik. So sah es jedenfalls der aus der Steiermark stammende 1970 verstorbene Musikforscher Harald Kaufmann, als er sagte: "Alles ist gleichgültig, aber eben deshalb auch gleich belangvoll." Österreichischer Geist, vom Engländer Roger Norrington und den Stuttgarter Musikern bestens getroffen.

    Franz Schubert
    aus: Sinfonie Nr. 6 C-Dur
    4. Satz, ab 5’04 bis Ende
    Track <4>
    Dauer: 5‘48
    Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
    Leitung: Roger Norrington
    LC 10622 hänssler classic
    CD 93.298


    Die neue Platte – heute mit der 6. Sinfonie von Franz Schubert, die jetzt beim Label hänssler classics mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter Leitung von Roger Norrington erschienen ist.