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Nicht von oben herab begafft

Der Blick in die Welt von vorgestern fasziniert heutige Zeitgenossen; davon zeugen die zahlreichen Doku-Soaps, bei denen die Teilnehmer auf oft absurde Weise nachzuvollziehen versuchen, wie es zu Großvaters Zeiten gewesen sein mag. Traditionelle Lebensformen existieren aber immer noch - nur, sie sind nie in der Reinkultur zu finden, die in den Soaps als harte, aber gute alte Zeit inszeniert wird.

Von Sabine Peters | 15.04.2009
    Die Ethnologin Christine Zuppinger hat mehr als zwei Jahre lang die beiden über 70-jährigen ledigen Schwestern Maria und Zenzi besucht; die Frauen bewirtschaften einen Hof im bayerischen Wald. Noch bis ins hohe Alter hinein versorgen sie ihre Tiere, gehen ins Holz und backen wöchentlich im großen gemauerten Backofen Brot für ihre etwa 30 Abnehmer umfassende Kundschaft.

    Hätten die Schwestern nicht, wie andere auch, ihr Land verkaufen und sich zur Ruhe setzen wollen, anstatt morgens um vier Uhr mit dem Tagewerk zu beginnen? Dumme Frage; ihr reges Leben erfüllt sie, es macht sie aus. Auch wenn Maria und Zenzi kinderlos sind, sie verstehen sich als Teil einer Reihe und wollen das Werk ihrer Vorfahren bewahren und fortführen, so lange es möglich ist. Christine Zuppinger begleitet die beiden Alten bei ihren Arbeiten, sieht sich auf dem Hof um, in der Dachkammer, in der Küche. Maria und Zenzi öffnen sich ihr allmählich und vermitteln ihr in kleinen Mosaiksteinen ein Bild von ihrer Geschichte, ihrem Alltag und ihrem Selbstverständnis.

    Christine Zuppinger wechselt bei ihrer Darstellung zwischen der Beschreibung des selbst Erlebten und den Originalsätzen der Frauen, die sie zu einer Kunstsprache verdichtet hat. Zahlreiche Schwarzweiß-Fotografien geben dem Buch zusätzlich eine optische Dimension. So sieht man die Schwestern auf vielen Bildern, wie sie in Kittelschürzen, dicken Strümpfen und Kopftüchern ihren Arbeiten nachgehen. Man liest, dass ihre langen Haare ihr größter Schmuck sind, um den sie sich jeden Abend sorgsam kümmern - auch wenn die Haare eigentlich immer unterm Tuch verborgen sind.

    Es ist Zuppingers Verdienst, einen Tonfall für ihr Buch gefunden zu haben, der auch scheinbar Exotisches nicht von oben herab begafft; einen Tonfall, der nicht voyeuristisch wirkt. Bei aller Annäherung muss es von beiden Seiten aus auch eine wohltuende, respektvolle Distanz gegeben haben. Eines Tages wird die Autorin eingeladen, bei Maria und Zenzi zu übernachten; da wird ihr Bettüberzug mit frischem Heu gefüllt. Als dann morgens nach vier Uhr die ersten Arbeiten erledigt sind, schaltet eine der Schwestern um fünf Uhr den Fernseher ein. Eine archäologische Sendung läuft, und sie ärgert sich: Man soll doch die Toten in Frieden lassen. Gleich danach blättert sie in der Zeitung zuerst nach den Traueranzeigen, damit sie nicht versäumt, den Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen.

    Solche Kontraste, die in ihrer Spannung unkommentiert belassen werden, machen das Buch zu einer nachdenkenswerten Lektüre. Zuppinger zeigt quasi im Vorübergehen, dass auch die Gegenstände, hier der Backtrog, da der Geschirrspüler, im Grunde unverbunden nebeneinander stehen beziehungsweise sich irgendwie zusammenraufen müssen. Man glaubt diesem Buch, dass sie es schon schaffen - zumal Zenzi mit allen Tieren und Dingen spricht; dem Auto etwa muss sie oft gut zureden.

    Das Leben der beiden Frauen wirkt bei allem, was altmodisch scheinen mag, nicht nostalgisch. Das liegt auch an den Schwestern selbst, die so pragmatisch und handfest von den irdischen, aber auch von letzten und jenseitigen Dingen sprechen. Zenzi schildert ausführlich, wie sie abends einen Zopf flicht, um bequemer zu liegen; dabei orientiert sie sich an den Frauen der Zarenfamilie, die es auch so machten, um knapp zu schließen, Zitat: "Und dann haben sie sie umbracht". Das irdische Dasein, so wissen die Schwestern, ist nur ein Zwischenspiel, und um die ewige Seligkeit zu erlangen, kommt es im Diesseits darauf an, beizeiten zu vergeben. Zenzi und Maria haben Einiges, was sie der Dorfgemeinschaft verzeihen müssen, denn die Leute reden nicht immer gut von den ledigen Schwestern.

    Es bleiben Lücken in diesem Text, die den Leerstellen im Leben der beiden Frauen entsprechen; Christine Zuppinger hat es offenbar vermieden, Maria und Zenzi zu persönlichen Bekenntnissen zu zwingen, wo sie lieber in Floskeln ausweichen. Auf die Frage etwa, warum die beiden nicht heirateten, heißt es: Verehrer hätten sie schon gehabt. Aber die Heimat, das sei doch das Schönste. So sehr man sich im Alltag über das inhaltsleere Geschwätz von Politikern, Meinungsführern und anderen Größen ärgern kann: Die formelhaften Redewendungen der Schwestern haben etwas Entwaffnendes an sich. Man erinnert sich an den Wortursprung: Flosculus, lateinisch "das Blümchen", der schmückende Ausdruck. Die Antworten auf große Fragen sind oft simpel, und sie zeugen nicht von harter intellektueller Auseinandersetzung, sondern scheinen in den beiden Körpern allmählich aufgegangen zu sein wie das Brot im Ofen.

    Man muss an dieser Stelle noch einmal hervorheben, dass Christine Zuppinger die Schwestern nicht mit dem Glorienschein eines von den Zeitläuften unberührten Daseins umgibt: So besucht eine von ihnen einen Kurs für Bauernmalerei; von dem Verdienst wird eine neue Maschine für den Hof gekauft.

    Maria sagt einmal, Erfahrungen und Gedanken müsse man kitten wie Schwalbennester, damit sie einen Sinn ergäben. Die Rede der beiden Schwestern, wechselnd zwischen Floskeln und verblüffenden wie bezaubernden poetischen Bildern, zeigt ein brüchiges Leben - und gerade deshalb wirkt Zuppingers Buch als in sich stimmig.

    Christine Zuppinger: Schwalbennester. Zwei ledige Bäuerinnen erzählen. Mit zahlreichen s/w- Fotos. Steidl-Verlag, 134 Seiten, 16 Euro