Mittwoch, 24. April 2024

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Nichts als Gespenster. Erzählungen

Irgendwann schlägt auch einmal die Stunde der Kritik. Sie muss zwar oft warten, Geduld haben und sich zunächst ziemlich ducken, aber dann ist sie auf einmal voll da. Am besten, wenn ein Autor nach einem in den Himmel gelobten Debüt sein zweites Buch vorlegt. Da sirrt und rattert und summt es im Betrieb, da glühen alle Drähte, und ein Fall wie der von Judith Hermann, die jetzt nach dem sensationellen Erfolg von "Sommerhaus, später" aus dem Jahr 1998 einen zweiten Band mit Erzählungen vorlegt - so ein Fall ist besonders dankbar. 250 000 Mal wurde "Sommerhaus, später" verkauft, in 17 Sprachen übersetzt, und die Feuilletons sind damals alle ein bisschen überrumpelt worden. Jetzt aber war es amtlich: am 31. Januar 2003 war der offizielle Auslieferungstermin von "Nichts als Gespenster", dem ominösen zweiten Buch von Judith Hermann, ein Freitag, und da war der Overkill der Medien bereits eingetreten. Die Kritiker zeigten mit aller Macht, dass sie auch da waren. Und wie! Ein Buch, das derart im Blickfeld steht, ist der ideale Anlass, um sich als Kritiker zu positionieren. Die angekündigte Startauflage von 100 000 Exemplaren - sie befeuert irgendwie auch den, der über dieses Buch schreibt. Deswegen wohl handelt der Kritiker vor allem über sich selbst - welche Hauptseminarreferate er selber gehalten hat beispielsweise und dass Judith Hermann daran erinnert; oder welcher Autor ihn besonders interessiert und dass Judith Hermann, wenn man nur will, durchaus etwas mit ihm zu tun hat: es gibt onkelhafte und tantenhafte Varianten. Die Pose des Kritikers kann recht verräterisch sein. Geschmeidige Karriereladies werfen der Autorin vor, dass ihre Figuren keine Karriere machen wollen. Und stoßen sich daran, dass man bei einer Figur, die Germanistik in Tübingen studiert, nicht das Thema der Magisterarbeit erfährt. Da prallen wahrlich Welten aufeinander: Themen von Magisterarbeiten sind nun wirklich das Letzte, was in diesen Erzählungen interessiert.

Helmut Böttiger | 09.02.2003
    Versuchen wir also erst einmal, uns gelassen zurückzulehnen. Das ist natürlich nicht so einfach, denn es geht hier um ein aufsehenerregendes Phänomen. Im Zentrum der Beschäftigung mit Judith Hermanns Erzählungen steht, ob ausgesprochen oder nicht, ein Befund: Diese Autorin hat offenkundig einen Ton gefunden, den es vorher nicht gab und der ihre Generation auf eine traumhafte Weise charakterisiert. Es ist die Generation derer zwischen Mitte Zwanzig und Mitte Dreißig, und sie identifizieren sich unwillkürlich mit diesem Ton, mit diesem "Sound": vielleicht ist dieses Wort hier tatsächlich einmal zutreffend. Es geht um ein bestimmtes Lebensgefühl, um eine Großstadtbohème, die nach etwas sucht, was sie selbst nicht genau definieren kann; es hat viel mit Theater oder zumindest mit Kleinkunst zu tun und mit einer richtungslosen Sehnsucht. Unmerklich ist man erwachsen geworden, aber weiß nicht so recht, wofür. Man kennt schon alle Erfahrungen, ohne sie eigentlich gemacht zu haben. Das ist auch gleich in der ersten Geschichte des neuen Buches so:

    Er hatte gesagt: "Weißt du, wer du bist?", und ich hatte zuerst gezögert und dann doch geantwortet - "Ja". Er sagte "Bist du die, für die ich dich halte?", und ich sagte "Ich weiß nicht", und er sagte: "Doch. Du weißt", und dann kam Ruth an den Tisch zurück, und die Worte waren gefallen in eine genau abgemessene Zeit, es waren genug Worte gewesen. Wenn wir einschliefen, abends, drehte ich mich von Ruth weg mit dem Gesicht zur Wand. Mein Schlaf war leicht. "Was wirst du machen, wenn du wieder in Berlin bist?" fragte Ruth einmal, und ich sagte "Ich bin nicht sicher", wie hätte ich ihr erklären können, dass mein ganzes Leben plötzlich wieder offen war, leer, ein weiter, unbekannter Raum. Ich stand am Fenster ihrer Wohnung und sah auf die blaue Leuchtreklame des Parkhauses, das verspiegelte Hochhaus dahinter, am Himmel stand schon der Mond, Ruth sagte meinen Namen, und ich drehte mich um. Wir kauften Kleider, Schuhe, Mäntel. Ich sagte: "Ich würde gerne bleiben, aber morgen muss ich fahren."

    Das Entscheidende wird nie gesagt. Doch die Augenblicke sind sehr beredt. Um die Autorin Judith Hermann verstehen zu können, muss man noch einmal auf den Anfang zurückkommen. Als damals "Sommerhaus, später" erschien, gab es noch keine Geschichte, es gab nur ein Gefühl. Vor allem aber gab es auch ein Bild. Und dieses Bild machte Judith Hermann sofort zu einer Ikone der Popkultur - etwas, was auch auf dem Feld der Literatur hin und wieder gelingt. Das Bild war schon da, bevor es die Autorin gab. Es sah melancholisch aus und herb, und Judith Hermann war von einem Pelzkragen umhüllt, der etwas Russisches hatte und Wärme versprach. Sehnsucht und Leere lagen in diesem Foto, eine Verlorenheit, die charakteristisch schien für die, welche in die neunziger Jahre hineingewachsen waren und sich nun lustvoll und desorientiert in ihnen zu finden versuchten. Das neue Berlin, in dem Ost und West miteinander verschwammen und neue, unverbrauchte Weiten auftauchten, sibirische Gefühle und lange vergessene Träume, schien der ideale Austragungsort dafür zu sein. Dass der Verlag das Foto der Autorin immer größer in seine Anzeigen schaltete, war kein Zufall: dieses Foto drückte etwas aus, wonach zahlreiche Leser suchten und dann zu diesem schmalen Erzählungsband geführt wurden. In den Lesungen Judith Hermanns fanden Selbstvergewisserungen statt, es waren rituelle Handlungen, und im Publikum fielen die zahlreichen Frauen um die Dreißig auf, die sich in einen Pelzkragen gehüllt hatten.

    Das Autorenfoto von Renate von Mangoldt ist der Schlüssel zu allem, was danach folgen sollte, es ist auch der Schlüssel für das neue Buch. Der Erwartungsdruck auf Nichts als Gespenster baute sich viereinhalb Jahre lang auf und nahm okkulte Züge an. Natürlich ist das Buch jetzt gebunden und kein Taschenbuch mehr, und die Erzählungen, sieben an der Zahl, sind länger geworden und ausladender, aber Erzählungen sind es immer noch.

    Obwohl es mich müde macht, immer und immer wieder die alten Geschichten zu erzählen, kann ich nicht widerstehen und erzähle sie doch,

    sagt die weibliche Ich-Figur in der Erzählung "Wohin des Wegs". Sie ist gerade mit Jacob zusammen und erzählt ihm, wie sie das letzte Silvester mit Peter, Sarah und Micha in Prag verbracht hat. Am Schluss heißt es:

    Jacob sieht mich an und sagt freundlich: "Was lachst du? Was machen die jetzt - Peter, Sarah und Micha?" Ich mache ein fragendes Gesicht. Ich möchte sagen: "Jede Geschichte hat ein Ende." Ich möchte sagen, dass auch unsere Geschichte ein Ende haben wird und dass ich dieses Ende kenne, ich möchte ihn fragen, ob er es hören will, ich hätte größte Lust, ihm davon zu erzählen. Er streckt seine Beine aus und setzt sich ein wenig anders hin, näher zu mir, in ungefähr drei ein halb Minuten wird er mich anfassen. Vielleicht sagt er "Erzähl's schon". Vielleicht sage ich "Ich kann nicht damit aufhören, mir die Zukunft vorzustellen, Jacob. Ich kann nicht aufhören zu denken, dass ich irgendwann und vielleicht schon bald jemandem die nächste Geschichte erzählen werde, eine Geschichte über dich." Er seufzt und zieht die Schultern hoch. Dann sieht er mich an, mit seinen braunen Augen, die etwas zu groß sind, offen und fragwürdig zugleich, er wird mir demnächst eine dieser Fragen stellen, auf die ich nie eine Antwort weiß, eine Frage, die ihn animiert - "Was ist dir lieber, ein Kuss in den Nacken oder ein Biss in den Kehlkopf?" Ich wünschte, er würde gehen. Er geht auch, nur noch nicht jetzt.

    Da ist er wieder, dieser Sound der Vergeblichkeit, der Melancholie; etwas Cooles, das um seine Verletzlichkeit weiß. Hier geht es nicht um die Frage, ob jemand den anderen noch liebt, hier geht es um das Wissen um die Leere, um flüchtige Berührungen, um ein gegenseitiges Sich-Anziehen und Sich-Abstoßen, das eher Naturgesetzen zu folgen scheint. "Nichts als Gespenster" nimmt den Sound aus "Sommerhaus, später" wieder auf: Es ist wie jene zweite Single, die die erste Single, die ein großer Hit war, kopiert, hie und da ein bisschen dicker aufträgt, hie und da ein bisschen verfeinert. Die Figuren sind austauschbar, egal ob sie Peter, Sarah und Micha heißen oder Jacob oder Ruth und Raoul. Einmal gibt es ein Vierergespann aus Jonina, Magnus, Jonas und Irene. Als sich bei Jonas und Jonina unüberschaubare Gegensätze anziehen, werden sie schon in ihrer Namensgebung als Kunstfiguren kenntlich.

    Schon im ersten Buch bildeten ferne Orte, ob in der Karibik oder in Lower Manhattan, gelegentlich Kulissen für die ziellosen Suchbewegungen der Figuren. Jetzt kommen Tromsö in Nordnorwegen, Olurfsbudir in Island oder Austin in der Wüste von Nevada dazu. Doch diese Orte sind austauschbar, überall findet man jenes fremde, schöne und hässliche Berlin, die Figuren laufen ständig vor sich selbst davon und finden immer wieder dasselbe. Alle haben haben etwas mit einem ungewissen Szenegefühl zu tun: die erste Generation, die in der Globalisierung lebt. Es herrschen Verfügbarkeit und Desorientierung. Obwohl alles da ist, weiß man, dass man im Grunde nichts hat. Man hat vor allem nichts zu erwarten. In der Kunst findet sich das alles am besten wieder, und schon die erste Erzählung mit dem Titel "Ruth (Freundinnen)" führt mitten hinein in das Theatermilieu, das die Sehnsüchte dieser Texte umspielt. Die Ich-Erzählerin und ihre Freundin Ruth kennen sich schon lange, sie haben zusammen gewohnt, in einem dieser Hinterhof-Häuser mit Kachelofen und rußigen Fensterscheiben, in denen es kalt ist und man durchsichtige Teeschalen und immer wieder hervorgekramte Zigaretten braucht. Und immer läuft eine leicht atonale, vom Country herkommende Musik, ein bisschen schräg und schwebend; man bewegt sich in Cliquen, wechselt die Freunde und wartet, bis etwas ganz Großes passiert. Ruth hat sich in Raoul verliebt, muss aber in einer namenlosen Kleinstadt mit Fußgängerzone, Parkhäusern und Kirchturmspitze Theater spielen - die Ich-Freundin besucht sie dort, und zwischen ihr und Raoul entsteht etwas, das unausgesprochen bleibt, aber intensiver zu sein scheint als die sich rasch auflösende Beziehung zwischen Raoul und Ruth. Worin dieses Intensive besteht, was eigentlich los ist: niemand erfährt das, weder der Leser noch die beteiligten Personen. Aber es teilt sich etwas mit, etwas Verdichtetes und Flirrendes, das nicht genau zu fassen ist. Die Bildende Kunst wiederum bildet den Hintergrund für die Schlüsselszene in "Wohin des Wegs":

    Das Schloss war schön, verfallen und heruntergekommen, die Wandschränke leer, hinter den Tapetentüren Plastikeimer, Desinfektionsmittel und Besen, die Brokattapeten mit braunem Lack überstrichen, graues Linoleum über dem Parkett. Manchmal blieben wir stehen und umarmten uns ungeschickt, es schien Jacob gut zu gehen, mir ging es auch gut, obwohl die seltsame Vollkommenheit des Tages mich verschlossen machte, stumpf und erwartungslos. Wir umarmten uns, ließen uns wieder los, gingen weiter, sprachen nicht über das, was wir sahen, und waren uns einig. Die letzte Installation im letzten Raum, vor dem ein schwarzer Filzvorhang hing, trug den Titel "Wohin des Wegs". Ich zog den Vorhang beiseite, und wir betraten ein Zimmer, das vollständig mit Holzlatten verkleidet war, sie reichten fast bis unter die Decke und ließen nur ganz oben einen schmalen Spalt Licht herein. Es war dunkel, alle Helligkeit schien unter der Decke zu schweben, milchig und staubig, nur an die rechte Wand warf die Abendsonne ein ganz kleines, leuchtendes, goldenes Rechteck aus Licht. Es war warm, ein wenig stickig, vielleicht so wie ein Dachboden im Sommer, eine Wärme, die in den Körper hineingeht und ihn widerstandslos macht. Wir standen eine Weile so da und betrachteten das Rechteck, dann ging Jacob hinaus, und ich folgte ihm. Später, auf der Heimfahrt in der Nacht, redeten wir darüber. Jacob sagte: "Der Künstler kann von diesem komischen Lichtfleck nicht gewusst haben. Also ist es darum auch gar nicht gegangen, eine sinnlose Installation, wenn nicht gerade in dem Moment, in dem wir das Zimmer betreten haben, die Abendsonne diesen zugegebenermaßen sehr schönen Effekt an die Wand geworfen hätte." Er benutzte tatsächlich die Worte "Effekt" und "zugegebenermaßen", aber das war es nicht, was mich später denken ließ, dass wir in diesem Moment verschiedene Wege gingen. Es war der bezeichnende Unterschied in unserer Wahrnehmung, in dem, woran wir glaubten oder bereit waren, zu glauben. Ich war mir sicher, dass es um genau dieses goldene Rechteck aus Licht gegangen war. Die Abendsonne, ein klarer Himmel, ein bestimmter Lichteinfall und ein kurzer Augenblick, er und ich und der Gang durch das Schloss und der Moment, in dem wir zufällig dieses Zimmer betreten hatten, nicht zu spät und nicht zu früh, und eine Frage, "Wohin des Wegs", ich hätte meine Antwort gewusst.

    Alles ist vermittelt, alles ist indirekt, alles ist Kunst. Die Sehnsucht nach Wärme, ein Zufall, ein Lichtfleck: kleine Momente sind es, die stehenbleiben. Es ist nicht zu erklären, aber es ist ein ganz konkretes Gefühl. Es hält nicht lange vor, aber man kann sich lange daran erinnern. Die schönsten Erzählungen dieses Bandes sind allerdings vielleicht doch "Kaltblau" und "Die Liebe zu Ari Oskarsson". Beide spielen im hohen Norden, in beiden spielen Schnee, Kälte und Dunkelheit eine ausschlaggebende Rolle, endlose Horizonte und Fischfabriken. Dies ist die eigentliche Landschaft Judith Hermanns: eine von nichts unterbrochene Weite und Leere, karge und entlegene Verrichtungen, ein spröder, monotoner Alltag, in den ab und zu das Nordlicht fällt, mit glühenden, völlig unbegreiflichen Farben. In diesen Erzählungen, wo im menschenleeren, dunklen Raum des Nordens die inneren Stimmungen einer suchend-berauschten Metropolenszene eingefangen werden, ist die Autorin ganz bei sich selbst. Hier gibt es kein schmückendes Beiwerk, hier sind keine Erklärungen und Kommentare nötig, hier sind die Bilder, die Szenen und die Figuren beredt genug. In der Kunst des Weglassens entsteht das Literarische: das, worum es eigentlich zu gehen scheint, wird mit genauen Beschreibungen umkreist. Für das Zentrum gibt es keine Worte, aber es wird immer magischer. In "Die Liebe zu Ari Oskarsson" ist das Verrückte, Sich-Fallenlassende am reinsten gefasst, die Sehnsucht nach Stillstand und Abhanden-Gekommensein. Deswegen steht diese Erzählung auch am Schluss des Bandes.

    Und bevor ich das hätte greifen können, diese Traurigkeit unter der Lust, darüber zu lachen, warf Owen seine Arme hoch und schrie, und ich sah in den Himmel, und das, was ich für eine grüne Wolke gehalten hatte, fing plötzlich an zu zerfließen. Es zerfloss und zitterte und wurde heller und heller und war ein großer Wirbel über den ganzen Himmel hin in allen Farben, leuchtend und schön. Ich flüsterte "Was ist das denn?", und Owen schrie "Ein Nordlicht, Mann, das ist ein Nordlicht, ich fasse es nicht", und wir legten die Köpfe in den Nacken und sahen das Nordlicht an, ins All geschleuderte Materie, ein Haufen heißer Elektronen, zerborstene Sterne, was weiß denn ich. "Und bist du jetzt glücklich?" sagte Owen atemlos, und ich sagte ‚Sehr".

    Es gibt allerdings einige Erzählungen, in denen die Handlungsanweisungen, die Versuchsanordnungen im Text stehengeblieben sind. Und das stört mitunter. In "Zuhälter" zum Beispiel wird kommentiert und reflektiert, was bei einer in sich geschlossenen Erzählung so nicht nötig wäre. Die Wort- und Beziehungslosigkeit der handelnden Personen wirkt manchmal allzu programmatisch. "Aqua Alta", eine Tochter-Eltern-Geschichte mit Venedig als pittoreskem Hintergrund, ist eher eine Fingerübung: die Beziehung zu den Eltern funktioniert anders als das gleichgestimmte Verlorensein in einer Post-Bohème, da wird der Ton leicht angestrengt. Und die Titelgeschichte "Nichts als Gespenster", die sehr viel Atmosphärisches aus den wüsten Weiten der USA einfängt, leidet ein bisschen unter der Überkonstruktion: in einem recht kokett-berechneten, überraschenden Schlussabsatz liegt eine Pointe, die das Ganze kaum trägt. Man kann Judith Hermann durchaus einige Maschen nachweisen, einige Attitüden. In mehreren Geschichten taucht die Modefloskel "nicht wirklich" auf, eine Deutschwerdung des amerikanischen "not really", welche die List der Umgangssprache nutzen möchte: "Amerika existierte nicht, nicht wirklich" - das macht es sich denn doch zu einfach, weil es auf eine Wirkung setzt, die sich schon bei der Niederschrift verbraucht hat. "Das passiert", heißt es einmal lapidar - "That happens". Von der Coolness amerikanischer Short-Stories, zumal von dem in Deutschland plötzlich ungeahnt boomenden Raymond Carver, hat Judith Hermann viel gelernt. Manchmal ein bisschen zuviel.

    Derlei Kleinigkeiten fallen aber nur störend auf, weil die Suggestion so groß ist, mit der die Autorin Stimmungen einfängt. Sie steht in einem spürbaren Gegensatz zur Pose einer Pop-Literatur, die in ihrer Generation grassiert und sich an Oberflächenreizen abarbeitet und dem bedeutsamen Gestus, ob Pelikan oder Geha der bessere Füller war. Judith Hermann geht es darum, das leere Zentrum zu benennen, und sie schafft es, sprachlich dieselben Effekte zu erzeugen wie die Popmusiker, die hin und wieder genannt werden. Es ist schon auffällig, dass in vielen Feuilletons die sich rasch verbrauchenden Texte einer jüngeren deutschen Dienstleistungsliteratur allenthalben gelobt werden, wohl weil sie dem Erwartungshorizont der jeweils aktuellen Literaturtheorien entsprechen - bei Judith Hermann aber, die die besten Texte ihrer Generation schreibt, wird das zu einem ziemlich blasierten Durchblicker-Gestus. Bei ihr geht es jedoch nicht um Journalismus, sondern um Literatur. Sie erzählt zwar klassisch, transportiert dabei aber eine äußerst gegenwärtige Nervosität und Stimmungslage. Zwischen diesen Polen liegt eine fast musikalisch vibrierende Spannung. Wenn man einmal etwas über das Lebensgefühl dieser Tage nachlesen möchte, dann liefert Judith Hermann einen Grundtext - aus einer Zeit, in der die Desillusionierung selbstverständlich wurde und dennoch eine große Sehnsucht zu spüren ist.