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Nichts für keusche Augen

"Eine Zensur findet nicht statt...", so begann zwar der berühmte Artikel 118 der Weimarer Verfassung, Lichtspiele sollten davon aber ausgenommen werden: Das Kino galt den Moralmissionaren als Schauplatz verruchten Treibens. Als heute vor 85 Jahren das Reichslichtspielgesetz verabschiedet wurde, schob man der nach dem Ersten Weltkrieg neu gewonnenen Freizügigkeitt einen Riegel vor.

Von Hartmut Goege | 12.05.2005
    "Die im Elend aufgewachsene kleine Streichholzverkäuferin Ella Schulze bricht in einer Gasse ohnmächtig zusammen. Dort findet sie der redliche Universitätsprofessor Dr. Albrecht. Gegen den Willen seiner eifersüchtigen Verlobten Gertrud beschließt er, das erschöpfte Mädchen bei sich aufzunehmen. Die verhängnisvolle Tragödie nimmt ihren Lauf."

    So schildert im Mai 1920 die Berliner Internationale Filmzeitung die dramatischen Ereignisse eines aus heutiger Sicht harmlosen Streifens um Liebe, Lust und Leidenschaft. "Das Mädchen aus der Ackerstraße" gehörte dennoch zu den ersten Produktionen, die aufgrund des neuen Reichslichtspielgesetzes vom 12.Mai 1920 verboten wurden.

    "Wenn hier auch ein ernstes Problem der Großstadt erörtert wird, so geschieht das in einer derart schwülen Atmosphäre von Sinnlichkeit und Sensation, dass eine erzieherische Wirkung ausgeschlossen ist."

    So die Zensoren. Endlich hatten die Sittenwächter in deutschen Amtsstuben wieder ein Instrument zur Hand, mit dem sich Recht und Moral in der neuen Republik messen ließen. In der Regel erhielten indizierte Filme das Prädikat "entsittlichend". Im Gesetz hieß es:

    "Da Frauen erfahrungsgemäß einen großen Bestandteil der Lichtspielbesucher bilden, wird empfohlen, Bildstreifen nicht vorzuführen, welche eine anständige Frau ohne Erröten nicht mit ansehen könne."

    Wenn nicht Verbote, so waren Kürzungen an der Tagesordnung. Bis Ende 1920 hatten die Prüfkammern über 1000 Filme zensiert: 1,3 Millionen Meter Zelluloid.

    "Folgende Teile sind verboten: Nach Titel 22: Die Kussszene von dem Moment an, so die Frau die Arme sinken lässt. Nach Titel 30: Ein Mann schlägt einer Frau, die sich mit einer Tasche in der Hand entfernt, auf das Gesäß."

    Als nach Kriegsende im November 1918 die preußische Zensur aufgehoben wurde, ergoss sich eine Flut von so genannten Aufklärungsfilmen in die Kinos. Ausgelöst hatte diesen Boom ausgerechnet eine Film-Kampagne der kaiserlichen Generalität gegen die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten. Ein Publikumsrenner.

    Nun versprachen Titel wie "Geschlecht in Fesseln", "Tagebuch einer Verlorenen" oder "Mädchenhandel" neue pikante Details. Proteste gesellschaftlicher Gruppen häuften sich. Der protestantische Theologe Reinhard Mumm polterte 1919 in der Nationalversammlung:

    "Das ist eine Volksseuche und Volksverwüstung schlimmster Art. Es ist immer und immer wieder nur das eine erotische Element, das in den Vordergrund gestellt wird."

    Um die öffentliche Moral zu retten, verlangten die Sozialdemokraten sogar die Verstaatlichung der Filmindustrie. Der Antrag fiel durch, stattdessen stimmte auch die SPD für ein neues Zensurgesetz. Waren anfangs moralisch- religiöse Gründe ausschlaggebend, so zeigte die Praxis im Laufe der 20er Jahre eine zunehmende Politisierung.

    Nach mehreren Verschärfungen wuchs der Zensurspielraum fast unbegrenzt: Von der Herabwürdigung staatlicher Einrichtungen, Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Lächerlichmachen von Berufsklassen bis hin zum Verspotten von Landessitten reichte der Klagenkatalog. Praktisch konnte jeder Film verboten oder so entstellt werden, dass von Inhalt und Botschaft nichts mehr übrig blieb. Ein berühmtes Beispiel ist der sowjetische Film "Panzerkreuzer Potemkin". Nach mehreren neuen Schnittfassungen schrieb 1926 die Zeitung "Der Morgen":

    " Gereinigter Potemkin ! Das Reichswehrministerium hat sich nun entschlossen, gemeinsam mit Experten aus Bayern und Württemberg den Film soweit zurechtzuschneiden und mit neuen Titeln zu versehen, dass er auch von Angehörigen der Reichswehr ohne Gefahr genossen werden kann."

    Entscheidend in der Prüfpraxis war der Passus der mutmaßlichen Wirkung auf den Kinobesucher. 1931 bemerkte dazu der Filmkritiker Wolfgang Petzet ironisch:

    "Die Mitglieder der Prüfstellen wissen von ihm mit Sicherheit, dass er trotz seiner erstaunlichen Vielseitigkeit bedauerlich töricht ist und alles, was sie selber ohne weiteres verstehen und richtig bewerten, vollkommen missversteht."

    Das Lichtspielgesetz von 1920 bot zum Ende der Weimarer Republik den Nationalsozialisten eine ideale Handlungsplattform. Als der Anti-Kriegsfilm "Im Westen nichts Neues" 1930 in den Kinos aufgeführt wurde, lieferten sie mit gezielten Tumulten in Kinosälen der Zensur den notwendigen Verbots-vorwand.

    Ab 1933 wurde die Filmzensur zum Propagandainstrument der NS-Reichskulturkammer umfunktioniert. Einige der ehemaligen Zensoren standen vor viel versprechenden Karrieren.