Freitag, 29. März 2024

Archiv


Nichts wie weg

"Ich ergriff die Flucht, nicht nur vor dem ungewissen politischen Schicksal, sondern vor einem mich befremdenden Lebensgefühl." Der heute in Bamberg lebende Exiliraner Reza Hajatpour erzählt die Geschichte jugendlicher Verführung durch ein totalitäres Identifikationsangebot und ist dabei verblüffend ehrlich.

Von Florian Felix Weyh | 08.09.2005
    "Ich ergriff die Flucht, nicht nur vor dem ungewissen politischen Schicksal, sondern vor einem mich befremdenden Lebensgefühl."

    So ehrlich sind die wenigsten Exilanten, die unter den totalitären Verhältnissen, denen sie entkamen, nicht unmittelbar um Leib und Leben fürchten mussten. Seine Heimat nur um eines gesellschaftlichen Klimawechsels willen verlassen? Vielleicht mildert der dreißigjährige Abstand zwischen Flucht und Niederschrift den Blick auf die Beweggründe, denn was der Autor vor diesem resümierenden Satz auf 230 Seiten schildert, ist doch mehr als nur die Genese einer wachsenden Differenz zwischen einem jungen Intellektuellen und dem Staat, in dem er lebt. Wir schreiben das Jahr 1985, als der Dreiundzwanzigjährige den Iran verlässt – jenen Iran, in dem seit sechs Jahren die Mullahs herrschen. Während im Westen zu dieser Zeit der Begriff "Mullah" abgrundtiefe Verachtung auslöst – das sind die Bösen im Gewande geistlicher Herren –, verkörpert er für den heranwachsenden Sohn einer bürgerlichen Familie das Ziel allen intellektuellen Strebens. Schon als Oberschüler findet er zu einem religiösen Lehrherren und beschließt, selbst Geistlicher zu werden. Ein reichlich kühnes Unterfangen in den letzten Jahren des Schah-Regimes, von seinen nicht eben strenggläubigen Eltern nur mäßig darin unterstützt, denn automatisch gerät der junge Mann in den Dunstkreis der islamischen Revolution, auch wenn ihn nur religiöse und philosophische Motive treiben. Politik ist seine Sache nicht, ihm geht es um den rechten Weg zu Gott und ein gerechtes Leben auf der Erde. Kaum volljährig geworden, erhält er die Insignien seinen neuen Standes: Ein Großajatollah setzt ihm in der Mullah-Hochburg Ghom den Turban auf. »In diesem Augenblick«, erinnert er sich drei Dekaden später, »schwebte mein Gefühl in einem Rausch der Leichtigkeit, als ob mir eine Krone vom Himmelreich aufgesetzt worden wäre, die mich von der Erde abheben lassen würde.«

    Solche Gefühle kennt ein Leser hierzulande, wenngleich aus ganz anderen Zusammenhängen. Der heute in Bamberg lebende Exiliraner erzählt die Geschichte jugendlicher Verführung durch ein totalitäres Identifikationsangebot, und die ist Teil unserer eigenen nationalen Identität. Die Mechanismen von Islamismus und Nationalsozialismus gleichen sich so verblüffend, dass darüber alle Differenz der unterschiedlichen Kulturen verblasst. Natürlich erscheint uns der Iran der Endsiebzigerjahre hochgradig fremd, zugleich aber ebenso vertraut: Die große, allumfassende Versprechung von Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, Ende von Armut und Not, die kritiklose Anhimmlung überragender Autoritäten, der Fanatismus ihrer männlichen jugendlichen Anhänger, die sich in paramilitärischen Banden organisieren – und dann die Enttäuschung nach der Mullah-Revolution, als sich die niederen Motive der geistlichen Führung in den Vordergrund schieben: Macht- und Geldgier statt Menschenliebe und Paradies auf Erden. Nicht die Befreiung vom Joch der Unterdrückung, sondern nur ein Wechsel der Begründungen, warum man jetzt noch keine Freiheit gewähren könne.

    Dennoch dauert es seine Zeit, bis der junge Mullah seinen vorgezeichneten Weg verlässt. Eine unglückliche Konvenienzehe, geschlossen aus Glaubenszwängen, führt ihn ins Gefängnis, denn die Brüder seiner Frau nutzen kritische Bemerkungen, um ihn politisch zu diskreditieren; in Wahrheit geht es um Familienehre und Eifersucht. Nur sehr langsam erwachen die Widerstandskräfte des jungen Mullah, der doch längst gemerkt hat, dass er anders denkt und fühlt als seine Altersgenossen. Ein Buchhändler, der ihn mit aufklärender Literatur versorgt, lotst ihn durch diese schwierigen Jahre. Doch auch er, ein Ex-Geistlicher in der Tarnung der unauffälligen Kleinhändlerexistenz, fällt Khomeynis Schergen zum Opfer. Letztlich ist dies der Anstoß für die Flucht des Autors, die doch keine richtige Flucht sein soll, weil die andere Welt jenseits des Islam keine Verheißung darstellt: »Ich wollte den Weg des westlichen Individualismus nicht einschlagen, in dem ich mich in ein anderes Extrem der Einsamkeit stürzte.«

    Hier liegt der Anknüpfungspunkt des historischen Berichts an die Gegenwart, denn so denken wohl noch viele Moslems. Ansonsten ist die Binnensituation im Iran von heute ungleich komplexer als im Jahr 1980. Die jungen Fanatiker, die heute im Namen des Islam Selbstmordattentate in aller Welt begehen, lassen sich keineswegs linear von den »Revolutionswächtern« des Khomeyni-Regimes hochrechnen; hier ist ein neue Qualität des Fanatismus in die Welt gekommen. So erzählt das Buch zwar viel aus dem geheimnisumwitterten Morgenland, lässt aber keinerlei kausale Ableitung zu – außer der einen universalen, dass man jungen Männern nie intellektuelle Totalitäten anbieten darf, sondern sie stets die Fähigkeit zu kritischem Zweifel lehren muss.