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Nicolas Charaux' Inszenierung am Berliner Ensemble
Schwindender Ideenreichtum

Nicolas Charaux galt als neue Regieentdeckung, wurde in Salzburg mit dem Young Directors Award gehypt. Dementsprechend hoch waren die Erwartungen an seine Inszenierung von "Victor oder Die Kinder an der Macht" von Roger Vitrac am Berliner Ensemble. Und die wurden leider enttäuscht, findet unser Kritiker.

Von Eberhard Spreng | 11.02.2016
    Der Schriftzug "Berliner Ensemble" an dem Theater, das in Berlins Mitte am Schiffbauerdamm beheimatet ist.
    Der Schriftzug "Berliner Ensemble" an dem Theater, das in Berlins Mitte am Schiffbauerdamm beheimatet ist. (picture alliance / dpa / Julia Kilian)
    Victor feiert seinen neunten Geburtstag und seine ganze Familie feiert mit. Aber es geht diesmal nicht darum, dass alles auf Kindergeburtstag umgetrimmt wird und dass die Erwachsenen kollektiv einem neurotischen Niedlichkeitswahn verfallen und sich auf Kinderniveau bringen. Statt dessen lässt dieser Victor präpotent und frühreif seine Kindheit hinter sich und mischt die Erwachsenen auf, zerstört ihre verlogenen Gewissheiten und offenbart verschwiegene Affären. Die Liaison des Vaters mit Thérèse Magneau ist dabei Kern der Intrige und damit ein klassischer Topos der französischen Salonkomödie und des Vaudeville. An Körpergröße überragt dieser vom 29-jährigen Raphael Dwinger gespielte Victor schon längst seinen Vater, nun aber geht es um die endgültige Zerstörung eines Mythos: Das des immer netten Sohnemanns. Zunächst zertrümmert er eine kostbare weiße Vase, beschuldigt aber das Dienstmädchen, sie fallen gelassen zu haben, bevor er von der kleinen Esther behauptet, sie habe es für ein "Pferdeei" gehalten, und sie habe es zerschlagen, um "das Fohlen herauskriechen" zu sehen. Keine Frage, Victor ist verrückt geworden.
    Abgründe drohen hinter der Komödienseeligkeit
    Auf einer weißen runden Bühne, die inmitten des Probenraumes des Berliner Ensembles aufgebaut ist, nehmen sich die bunt kostümierten, lustig aufgebrezelten Figuren zunächst aus wie Figürchen in einer Spieluhr, angetrieben vom netten Pling-pling, des in eine grüne Pagenuniform gekleideten Musikers Martin Klingenberg. Später wird er eine überraschend hereinschneiende Freundin von früher mit einem Blasinstrument begleiten: Er liefert den Ton für die ungeheuren Fürze, die die Dame zum Erschrecken der Geburtstagsgesellschaft von sich gibt. Aber zunächst prostet man sich mit Champagner zu, den Norbert Stöß als Vater Charles mehrfach mit 78er Grand Cru anpreist und säuselt c'est bon, c'est bon im Taumel frankophiler Klischeeseeligkeiten. Swetlana Schönfeld rudert als Mutter Émilie mit ihren Armen recht lustig über die kleine Bühne; Roman Kaminski stolziert in Paradeuniform sehr stramm herum, Anna von Haebler gibt das blasse Dämchen Thérèse Magneau ganz ansehnlich und Norbert Stöß den Hahnrei und Vater mit krampfiger Gelassenheit. Nur Antoine, der gehörnte Ehemann von Thérèse lässt in Jörg Thiemes Spiel ahnen, dass hinter der Komödienseeligkeit Abgründe drohen. Die lauern im Hintergrund, zum Beispiel in dem infantil-debilen Geburtstagsständchen, dass Victors Freundin Esther vorträgt.
    "Ju ju ju steckt die Pfote
    In das Butterfass ju ju
    Metzger säbelt derweil Wurst ab
    Kopf des Rentners mit dazu.
    Ju ju ju stibitzt die Butter
    Morgens von dem Frühstücksbrot
    Darauf schießen sich die Eltern
    Gegenseitig tot."
    Harmloser als das Stück selbst
    Vom niedlichen Anfang an hat Roger Vitracs Stück einen finsteren Untergang im Auge: Victor, dessen frech provozierende Art Raphael Dwinger so eben noch andeutet, dessen dämonisches Potenzial aber völlig unerkannt bleibt, muss nach getaner Arbeit tot dahinsinken. Nachdem er die falsche Fassade der bürgerlichen Wohlanständigkeit eingerissen hat, sind alle beteiligten Figuren mit der tödlichen Wahrheit ihrer Existenz konfrontiert. Thérèse Magneaus Ehemann Antoine hat sich erhängt, nachdem er Charles in einem furiosen Wutausbruch angegangen war.
    • "Mit Ihnen rede ich nicht. Sie sind ein Halunke, ein Schwein, ein Armleuchter, hören Sie! Verlangen Sie keine Erklärungen von mir, bevor Sie mir nicht selber welche geben. Sie Hundsfott."
    • "Antoine!"
    • "Es gibt keinen Antoine! Wenn Sie nicht aufhören, hau ich Ihnen die Fresse ein! Die Fresse, verstanden!"
    • "Das ist ja Wahnsinn."
    Victors kleine Freundin Esther ist, wie sich herausstellt, seine Halbschwester und Ergebnis der Affäre seines Vaters mit Thérèse Magneau. Inzest spielt also symbolisch in die Neigungen der Kinder hinein, so wie man mit Sigmund Freud und Slavoj Žižek sagen könnte, dass Victors Entlarvungen das Unterbewusstsein des Vaters symbolisieren, ein Trieb, der aus der Verborgen- und Verlogenheit ans Licht will. All das ist ja recht nett, kann aber kaum erklären, warum man das deutlich Staub behaftete Stück heute lammfromm auf die Bühne bringen muss. Der in Salzburg mit dem Young Directors Award gehypte Franzose Nicolas Charaux arbeitet sich brav am Text ab, mit langsam schwindendem Ideenreichtum. Seine Inszenierung ist so noch etwas harmloser als das Stück selbst und das Berliner Ensemble wieder einmal ein Theater, an dem man sich für die Dauer der Aufführung aus der Zeitgenossenschaft in vergangene Welten verabschieden kann.