Dienstag, 23. April 2024

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Nie wieder Höhenluft oder Die 21 Tage eines Neurasthenikers

Grosse Ereignisse werfen bekanntlich ihre Schatten voraus - warum also nicht auch große Werke der Weltliteratur? In Octave Mirbeaus 1901 erstmals erschienenen Roman "Die 21 Tage eines Neurasthenikers" zauberbergelt es jedenfalls gewaltig. Wie in Thomas Manns Jahrhundertepos bildet ein Kurort den Schauplatz der Handlung, wie in Davos wird da eine ganze Gesellschaft zu Grabe getragen und wie Hans Castorp fühlt sich der Protagonist Georges Vasseur von unsichtbaren Händen gehalten und von unsichtbaren Stimmen geheissen, die (Lebens-)Geschichten seiner kurenden Mitmenschen in sich aufzusaugen wie ein Schwamm. Zugegebenermaßen enden hier die Gemeinsamkeiten, doch der Schatten des Zauberbergs bleibt.

Sacha Verna | 11.12.2000
    Das Tagebuch des Sommerfrischlers Vasseur ist ein Zeitroman in tausendundeiner Karikatur. In dreiundzwanzig Kapiteln - nicht etwa in einundzwanzig wie zu erwarten wäre - führt Mirbeau Personen unterschiedlichster Berufe und Berufungen vor, die wenig, aber Wesentliches verbindet: Sie alle sind ziemlich miese Kerle. So planscht in den Thermalbädern von X der Winkeladvokat neben dem verschlagenen Bürgermeister und der skrupellose Marquis neben dem fanatischen General a.D., es ist dort, um es mit Georges Vasseurs Worten zu sagen, "eine unerträgliche Kollektion sämtlicher Vertreter der Menschheit" versammelt. Dabei lässt Mirbeau pikanterweise real existierende Figuren neben fiktiven auftreten. Er verschont weder gefeierte Saionpoeten noch amtierende Staatsminister, und verschafft ihnen die zweifelhafte Ehre, sich an der Seite von Mirbeauschen Kopfgeburten wie Dr.Fardeau-Fardat oder Isidor-Joseph Tarabustin von ihren Verdauungsbeschwerden und Kniegelenkarthrosen zu erholen. Dass der Autor von den lebenden Persönlichkeiten ebensowenig hält wie von den erfundenen, versteht sich von selbst. Mirbeau hatte sich nicht umsonst einen Namen gemacht als scharfzüngiger Kritiker all dessen, was auch nur entfernt nach miefigem Bürgertum, scheinheiligem Klerus oder Hurra-Kapitalismus aussah. Wenige Schriftsteller sind im Frankreich des "Fin de siècle" so vehement gegen politische Wurstel- und soziale Sauereien angetreten wie dieser 1848 geborene Romancier, Dramatiker und Feuilletonist.

    Wo immer ein Skandal vertuscht werden sollte, war Mirbeau zur Stelle, um die honorigen Gauner mit spitzer Feder zu durchbohren. In der Dreyfus-Affäre zum Beispiel kämpfte er bereits für einen Revisionsprozess, als Emile Zolas "J'accuse..." noch in weiter Ferne lag. Im Grunde genommen ist auch "Die 21 Tage eines Neurasthenikers" eine Anklageschrift - eine sehr vergnügliche freilich. Mirbeau ruft darin zum Kehraus in einer Gesellschaft, die seiner Ansicht nach dem düsteren, starren Gebirge gleicht, das X umgibt, und zum Inbegriff dessen verkommen ist, "was das Universum an unheilbarer Trübsal, an rabenschwarzer Entmutigung, an unerträglicher und tödlicher Atmosphäre überhaupt zu bieten hat". Er präsentiert die Welt als Monstrositätenkabinett, bevölkert von Leuten, die ihre Wohnungen mit Negerhäuten tapezieren und Reichtümer horten, die morden, weil ihnen gerade danach zumute ist, und die sowieso korrupt sind bis in die Knochen. Dabei übt sich Mirbeau keineswegs in simpler Schwarz-Weiss-Malerei. Er zeigt vielmehr, dass im ärmsten Teufel oft derselbe Triebtäter steckt wie im wohlig rülpsenden Geldsack.

    Wo Thomas Mann später mit feinster Ironie spielen wird, steht bei Mirbeau blanker Hohn. Und statt einer ausgeklügelten Romankonstruktion bietet Mirbeau pure Romandekonstruktion, indem er die einzelnen Porträts scheinbar vollkommen kunstlos aneinanderreiht- eine Art anarchischer Comicstrip als Antwort auf ein verkrustetes System. Octav Mirbeau war ein Pessimist. In seiner Radikalität ist er dem Profizyniker Michel Houellebcq nicht unähnlich, wobei er im Unterschied zu Houellebecq auf seine Weise noch an die Notwendigkeit und die mögliche Wirkung einer "littérature engagée" glaubte. Doch braucht man Mirbeau gar nicht aktueller zu machen, als er ist. Wieland Grommes versucht zwar in seinem ansonsten äusserst lesenswerten Nachwort, Parallelen aufzuzeigen zwischen den damaligen und den heutigen Verhältnissen in Politik und Wirtschaft. Aber so einfach geht's wohl nicht. Es genügt, sich darüber zu freuen, dass dieses wortgewordene Panoptikum menschlicher Perversitäten in Grommes' präziser Übersetzung nun auch dem deutschsprachigen Leser ein paar erschreckend amüsante Stunden bereiten kann. "Ich habe den Führer bestellt, der mich wieder zurückbringen soll zu den Menschen, dem Leben, dem Licht", schreibt Georges Vasseur am Schluss, "morgen, gleich bei Tagesanbruch, fahre ich ab...".Hoffen wir, dass ihm die Flucht gelungen ist.