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Niebel plädiert für Neuwahlen

FDP-Generalsekretär Dirk Niebel hat den Streit in der großen Koalition als Zerrüttungsprozess zu Lasten der Bürger kritisiert. Das Grundproblem sei nicht die Personaldebatte, sagte Niebel. Union und SPD versuchten, auf dem "allerkleinsten politischen Nenner" voranzukommen. So seien die Probleme Deutschlands nicht zu lösen.

Moderation: Jürgen Liminski | 07.07.2006
    Jürgen Liminski: Nur noch 24 Prozent der Deutschen sind mit der Arbeit der großen Koalition zufrieden. Innerhalb der großen Koalition dürften es kaum mehr sein, wenn man die Lautstärke der Kritik aus der SPD an Kanzlerin Merkel als Maßstab nimmt. Das Koalitionsklima ist gereizt, die Angriffe werden persönlicher. Man wirft der Kanzlerin Führungsschwäche vor, weswegen es zu keiner wirklichen Reform des Gesundheitswesens gekommen sei, sondern de facto nur zu einer Beitragserhöhung. Immerhin, der Haushalt 2007 wird als verfassungskonform verabschiedet und die Arbeitslosenzahlen sinken etwas.

    Ist die Kritik also nur ein Sturm im Wasserglas, um der Basis der SPD die Gelegenheit zu geben, Dampf abzulassen? Oder geht die Krise tiefer? Am Telefon begrüße ich Dirk Niebel, Generalsekretär der FDP. Guten Morgen, Herr Niebel!

    Dirk Niebel: Guten Morgen, Herr Liminski!

    Liminski: Herr Niebel, der Sprecher des Seeheimer Kreises, Johannes Kahrs, meinte dieser Tage, das Problem dieser großen Koalition ist immer mehr die Kanzlerin. Sehen Sie das auch so?

    Niebel: Nein, eigentlich nicht. Die Kanzlerin wird zwar mehr und mehr beschädigt, aber das Prinzip ist: Haltet den Dieb! Ich meine, immerhin ist es ja auch die SPD, die ihre Vorsitzende in letzter Zeit gewechselt hat wie andere Leute ihre Unterwäsche. Also das Grundproblem dieser großen Koalition, dieser vermeintlich großen Koalition, ist nicht eine Persönlichkeit auf der einen oder anderen Seite, sondern das Grundproblem ist, dass sie beide auf dem allerkleinsten gemeinsamen Nenner nur versuchen voranzukommen. Eine große Koalition darf nicht so heißen, nur weil sie viele Mandate hat, sondern sie muss zu einer großen Koalition werden, indem sie die Probleme des Landes löst. Und genau das ist nicht zu sehen. Und hier schieben die beiden sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Erst hat Herr Müntefering schon in den Koalitionsverhandlungen eine Richtlinienkompetenz der Kanzlerin verneint, jetzt fordert die SPD sie ein. Die Herrschaften sollten sich mal einig werden, was sie denn nun wollen.

    Liminski: Sie sprachen gestern von "Anzeichen tiefgehender Zerrüttung" in der großen Koalition. Wie lange kann diese große Koalition denn noch halten, Ihrer Meinung nach?

    Niebel: Es steht für Deutschland zu befürchten, dass die das machen wie Boxer in der zwölften Runde, die allein nicht mehr stehen können und sich gegenseitig auf den Beinen halten. Aber was wir dort erleben an Zerrüttungsprozess, das erlebt man normalerweise eigentlich erst kurz vor Ende einer Regierungskoalition, wenn die Partner auseinander gehen. Jetzt können wir für Deutschland, die Bürger, nur hoffen, dass das Trennungsjahr nicht zu lange wird.

    Liminski: Die Kanzlerin hält an der großen Koalition fest, wie sie heute in der "Bild"-Zeitung sagt. Aber vielleicht hält die große Koalition nicht an ihr fest. Angenommen, Herr Niebel, die SPD versucht, die Kanzlerin durch ein konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen, würde die FDP da mitmachen oder den Abgeordneten die Wahl frei lassen?

    Niebel: Die SPD müsste dann sich auf die linke Mehrheit, die strukturell im Bundestag ist, natürlich verlassen. Ein konstruktives Misstrauensvotum würde ja bedeuten, dass man eine Persönlichkeit vorzeigen kann, die kanzlertauglich ist. Die sehe ich in der gesamten SPD im Deutschen Bundestag nicht.

    Liminski: Die Grünen wären sicher gegen die Kanzlerin und für einen Kanzler Beck, das wäre ja dann dieser Kandidat - bei der FDP genießt Beck ja auch Ansehen, schließlich hat er jahrelang mit Ihrer Partei in Rheinland-Pfalz zusammengearbeitet. Würden Sie - ich wiederhole - um der Abgeordnetenfreiheit willen das Risiko einer heimlichen Ampelkoalition eingehen?

    Niebel: Ich bin der festen Überzeugung, Deutschland hat eine bessere Regierung verdient als die jetzige. Nach meinem Kenntnisstand - das müsste man aber noch mal nachgucken - kann beim konstruktiven Misstrauensvotum ein Kanzler aus der Mitte des Hauses gewählt werden, Herr Beck ist nicht Mitglied des Deutschen Bundestages. Ich sehe auch nicht, dass diese Situation sich stellt. Beide kleben an der Macht. Die Legislaturperiode ist noch nicht mal anderthalb Jahre gelaufen. Von daher können Sie davon ausgehen, dass beide Seiten versuchen werden, so lange wie möglich an der Macht zu bleiben, dass dieser Zerrüttungsprozess zu Lasten der Bürgerinnen und Bürger weiter vonstatten geht. Das ist bitter, insbesondere weil man weiß, dass es besser geht in Deutschland. Aber im Augenblick ist sowohl die Union als auch die SPD zu schwach, um sich den Wählerinnen und Wählern zu stellen. Beide haben Angst vor dem Wähler, deswegen werden sie weiterwursteln.

    Liminski: Dann wird man im besten Fall Zeit verlieren?

    Niebel: Das wäre das Beste, wenn es nur der Zeitverlust wäre. Ich befürchte, dass die Probleme in unserem Land so groß sind, dass wir uns auch einen Zeitverlust nicht leisten können. Es ist zwingend notwendig, Deutschland für die kommenden Jahrzehnte neu aufzustellen. Wir haben in den sozialen Sicherungssystemen, am Arbeitsmarkt, im Steuersystem eine Situation, die dazu führt, dass wir mehr und mehr im Wettbewerb mit anderen Nationen nach hinten fallen. Das haben wir erstens nicht verdient, und zweitens können wir uns das nicht leisten. Und daher wäre es das Vernünftigste, wenn man eine andere Regierungsmehrheit hätte, aber das ist in der jetzigen Situation halt nicht absehbar.

    Liminski: Wenn es keine andere Regierungsmehrheit gibt, also kein konstruktives Misstrauensvotum, weil es vielleicht auch an den Kandidaten mangelt, dann wäre die Alternative allenfalls - falls es zum Platzen der großen Koalition kommt - Neuwahlen. Das wäre doch sicher Ihre Option?

    Niebel: Ich gehe davon aus, das wäre das Vernünftigste, das Ehrlichste. Die Bürgerinnen und Bürgern haben dieser vermeintlich großen Koalition ein gewisses Maß an Vertrauensvorschuss entgegengebracht. Dieses Vertrauen ist schmählich missbraucht worden. Jetzt wäre es das Redlichste von den Regierenden, den Bürgern ihr Mandat zurückzugeben und sie neu entscheiden zu lassen.

    Liminski: Kommen wir zu den sachlichen Gründen für die Koalitionskrise, die Gesundheitsreform zum Beispiel. Der Reformzwang ergibt sich aus der Alterung der Gesellschaft, mithin aus den steigenden Kosten. Wo würden Sie denn als FDP ansetzen? Bei den Medikamenten? Beim Streichen des Leistungskatalogs? Oder bei den Einnahmen, also die Anhebung der Beiträge befürworten?

    Niebel: Wir würden vor allem nicht das tun, was die beiden großen sozialdemokratischen Parteien CDU/CSU und SPD machen: den Versuch, in ein nicht funktionierendes System weiter daran herumzudoktern. Das System der gesetzlichen Krankenversicherungen, wie wir es jetzt haben, in dem 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger drin sind, funktioniert ja offenkundig nicht. Und wenn man jetzt meint, mit neuem Geld dieses System funktionsfähig zu machen, dann irrt man sich sehr. Wir sind der festen Überzeugung, wir brauchen einen dritten Weg: ein Privatsystem, in dem die gesetzlichen Krankenversicherungen untereinander und mit den privaten in einen Wettbewerb gestellt werden, mit einer Pflicht zur Versicherung für den Bürger, aber auch mit der Pflicht für die Krankenversicherer, den Bürger aufzunehmen, egal wie alt oder vorher krank der ist, für einen Regeltarif und dann mit privatwirtschaftlichen Elementen, die abschließend noch gar nicht alle benannt werden können - von Beitragsrückgewähr hin bis zu Kostenbeteiligung und Ähnlichem ist da ja alles möglich -, ein individuelles Paket über den Regeltarif hinaus zu stricken. Ich glaube, dass das bei fortschreitendem gesundheitlichem Fortschritt, bei fortschreitender technologischer Entwicklung und bei alternder Gesellschaft die einzige Möglichkeit ist, ohne Zweiklassensystem an diesem Fortschritt teilhaben zu können.

    Liminski: Also die Ausweitung der Privatversicherung wäre das de facto doch?

    Niebel: Wir wollen die gesetzlichen Krankenversicherungen in die Freiheit entlassen, wir haben dazu auch ein Konzept vorgelegt. In diesem Wettbewerb untereinander und mit den Privaten wird es zu einem enormen Einsparungseffekt kommen. Und darüber hinaus brauchen wir Transparenz auch bei der Anbieterseite. Hier gibt es dann alle möglichen Varianten von Tarifen, die man abschließen kann über den Regeltarif hinaus: Wer weniger zahlen will, geht zum Vertragsarzt seiner Krankenkasse; wer bereit ist, etwas mehr zu zahlen, kauft sich meinetwegen die Drittmeinung eines anderen Arztes noch mit ein. Da sind der Fantasie alle Türen geöffnet. Das wird der einzige Weg sein, wie wir in einer älter werdenden Gesellschaft bei fortschreitender technischer Entwicklung im Gesundheitssystem alle mit einem guten Gesundheitssystem werden versorgen können.

    Liminski: Stichwort: älter werdende Gesellschaft. Die Junge Union moniert, dass es nicht möglich war, eine demografische Rücklage von 20 Euro pro Kassenmitglied zu bilden. Damit sollte sichergestellt werden, dass die nächsten Generationen nicht überbelastet werden. Wären Sie auch für solch eine demografische Rücklage?

    Niebel: Der Grund, weshalb die privaten Krankenversicherungen ja einigermaßen gut dastehen, besteht unter anderem darin, dass hier Altersrückstellungen gebildet werden. Was wir allerdings wollen, ist, dass diese Altersrückstellungen nicht an die Versicherung, sondern an den Versicherten gebunden sind, so dass man auch, wenn man eine andere Versicherung findet, die besser ist, oder mit seiner selbst nicht mehr zufrieden ist, ohne die heute noch vorhandenen Nachteile eine Versicherung wechseln kann. Natürlich brauchen wir Altersrückstellungen, ohne das wird es in der Zukunft überhaupt nicht gehen.

    Liminski: Zum Haushalt, Herr Niebel: Er ist verfassungskonform, die Investitionen überschreiten die Schuldenaufnahme. Sogar die Stabilitätskriterien verspricht Steinbrück, locker einzuhalten. Ringt Ihnen das nicht ein wenig Respekt ab?

    Niebel: Nicht wirklich. Eigentlich überhaupt nicht, wenn ich ehrlich bin. Denn erstens ist dieser Haushalt mit sehr, sehr vielen Fragezeichen versehen. Viele Haushaltsrisiken sind nicht einmal annähernd abgebildet - ich nenne als Beispiel mal nur die Entwicklung von Hartz IV. Auf der anderen Seite wird dieser Haushalt vermeintlich verfassungskonform dadurch, dass die Bürgerinnen und Bürger abkassiert werden auf eine Art und Weise, wie es die Republik noch nicht gesehen hat. Ich möchte die Mehrwertsteuererhöhung ab Anfang nächsten Jahres mit drei Prozent ansprechen, aber auch die Versicherungssteuer beispielsweise, die ja bei vielen gar nicht richtig realisiert wird. Dazu kommt die Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge, die Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge. Ich halte jede Wette darauf: Wir kriegen dann auch noch eine Gesundheitssteuer, die dann vielleicht nett "Soli" genannt wird.

    Also insgesamt geht es hier mit dem Griff in die Taschen der Bürgerinnen und Bürger stetig voran. Und das kann so nicht funktionieren. Denn die Bürgerinnen und Bürger sind diejenigen, die den Laden am Laufen halten. Wenn die von dem selbst verdienten Geld nicht genügend übrig behalten, um konsumieren zu können, und die Betriebe, um investieren zu können, wird es keine Arbeitsplätze geben, und ohne Arbeitsplätze gibt es keine Steuereinnahmen. Und dann kann Herr Steinbrück alles Mögliche aufschreiben, es wird im Endeffekt nicht funktionieren. Also ist hier eine Kehrtwende in der Politik nötig: mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt; ein einfaches, niedriges Steuersystem, das gerecht und verständlich ist. Das führt zu Arbeitsplätzen. Und Arbeitnehmer sind diejenigen, die Steuern zahlen.

    Liminski: Niedrige Steuern, keine Beitragserhöhungen. Die Konjunktur im nächsten Jahr droht, einzubrechen oder sich abzuschwächen, auch in Amerika. Damit gäbe es noch weniger Steuereinnahmen. Wo soll denn dann das Geld für die Reform herkommen?

    Niebel: Nun, auch Herr Struck hat ja mittlerweile dankenswerterweise festgestellt, dass die Mehrwertsteuererhöhung nicht nötig gewesen wäre. Das ist der einfachste Weg für Regierende, wenn man den Bürgern in die Tasche greift und ihnen Geld wegnimmt. Richtig wäre es, die Aufgaben des Staates zu überprüfen. Dieser Staat macht eine Menge. Er macht viel zu viel. Er macht viele Dinge, die die Bürgerinnen und Bürger besser selbst könnten, die sie wahrscheinlich auch billiger selbst könnten. Und wenn man meint, der allumfassende Staat wird es schon richten, dann geht man in ein System, das mit der Republik, wie wir sie in der Vergangenheit gekannt haben, nicht mehr allzu viel zu tun hat, da sind wir dann eher an sozialistische Systeme, die es ja auch schon mal gegeben hat und wo wir auch noch, wenn wir uns gut zurückerinnern, wissen, wie wenig erfolgreich die gewesen sind.

    Liminski: Koalitionskrise und Reformnot. Das war der Generalsekretär der FDP, Dirk Niebel. Besten Dank für das Gespräch, Herr Niebel.

    Niebel: Gern, Herr Liminski.