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Niederländisches Amerika

Geschichte wird von den Siegern geschrieben und ist dementsprechend häufig revisionsbedürftig. Im Fall von Amerika fiel die Rolle der Sieger den Engländern zu, und die Geschichte, die der Revision bedarf, ist die der europäischen Kolonien auf dem Gebiet, das heute die Vereinigten Staaten bildet. Russell Shorto unternimmt in seinem Buch New York – Insel in der Mitte der Welt eben dies: Er korrigiert die historische Überlieferung, wonach die englischen Pilgerväter die Grundlagen des modernen Amerika legten, und er rehabilitiert die Niederländer, denen diese Ehre seiner Meinung nach gebührt.

Von Sacha Verna | 29.10.2004
    Die "Insel im Zentrum der Welt" ist die Halbinsel Manhattan oder Mannahata, wie die Ureinwohner sie nannten. Der Europäer, der sie entdeckte war tatsächlich Engländer. Doch als Henry Hudson im Jahre 1609 den Fluss hinauffuhr, der nun seinen Namen trägt, tat er dies im Auftrag der Niederländischen Ost-Indischen Kompanie und war eigentlich auf der Suche nach einer Nordpassage nach Asien. Henry Hudson entpuppt sich als tragische Figur, mit der sich Shorto ausgiebig befasst. Dass auf der von Hudson entdeckten Halbinsel bald ein "Neu-Amsterdam" entstand, ist allerdings weniger diesem englischen Seefahrer zu verdanken als Menschen wie Catalina Trico, Joris Rapalje oder Bastiaen Krol. Sie wagten sich 1624 als erste europäische Siedler in Hollands jüngste Kolonie.

    Russell Shorto bemüht sich um Anschaulichkeit. Er versucht jene "live"-Atmosphäre zu schaffen, ohne die keinem amerikanischen Sachbuch der Sprung aus der Fachbibliothek ins Regal lesefreudiger Laien gelingt. Deshalb erzählt Shorto uns, dass Catilina und Joris heirateten und die Sonne vom Frühlingshimmel strahlte, als die beiden ihr zukünftiges Ackerland in Augenschein nahmen. Deshalb zitiert er ausführlich aus Briefen, die die Rapaljes und alle, die mit oder nach ihnen kamen, nach Hause schickten. Diese originalen Zitate wirken so lebendig, dass es strahlende Frühlingssonnen, die vielleicht nur in Russell Shortos Kopf existieren, nicht brauchen würde. Freilich verzeiht man dem Autor, dass er gelegentlich über das Ziel hinausschiesst, angesichts der Masse an Information die in den 450 Seiten seines Buches steckt.

    Es geht um die Zeit zwischen 1624 und 1664, zwischen der niederländischen Inbesitznahme des Geländes und der Eroberung "Neu-Amsterdams" durch die Engländer. Shorto legt überzeugend dar, dass das traditionelle Bild Amerikas als multikulturelle Aufsteigergesellschaft seine Ursprünge im Holland des 17. Jahrhunderts hat und nicht im Puritanismus, den englische Emigranten zunächst nach Virginia brachten und später über die ganze Ostküste Amerikas verbreiteten. Und nicht minder überzeugend legt er dar, dass das Epizentrum dieser neuen Welt New York war, oder eben "Neu Amsterdam", wie es damals noch hiess. Die Niederlande waren im kriegs- und krisengeprägten 17. Jahrhundert das liberalste Land Europas.

    Glaubensflüchtlinge von überall her fanden dort Schutz, in Universitätsstädten wie Leiden blühte die Wissenschaft. Die neue Kolonie im Westen wurde von vielen als Chance betrachtet, unbehindert von historischen Gegebenheiten fortschrittliche Ideen zu verwirklichen. Einer dieser Idealisten war Adriaen Van der Donck, der 1641 in in "Neu Amsterdam" eintrauf, um, buchstäblich, für Recht und Ordnung zu sorgen. Er hatte von der Niederländischen Westindischen Kompanie, die inzwischen für den Handelsstützpunkt Mannahata zuständig war, den Auftrag erhalten, einen Gesetzesentwurf herzustellen.

    Von Van der Donck stammt auch die erste präzise Beschreibung der neuen Welt, ein Buch mit dem Titel "Beschryvinge van Niew-Nederlant", das 1656 in Amsterdam erschien. Die Auszüge daraus, die Russell Shorto präsentiert, verraten die Begeisterung Van der Doncks für seine Wahlheimat und das enorme Interesse, das er allem entgegenbrachte, von der Flora und Fauna bis hin zu den Methoden der Indianer auf Bärenjagd. Gerade was die Ureinwohner betrifft, sind Van der Doncks Aufzeichnungen aufschlussreich. Sie machen deutlich, dass Indianer und Europäer anfangs überraschend friedlich neben- und miteinander lebten.

    Dass die Europäer ohne die Hilfe der Indianer in der neuen Welt schlicht untergegangen wären. Zu Missbrauch und Ausbeutung kam es erst später, als die Europäer sich den Indianern als Menschen überlegen fühlten und es als Armee leider auch waren.

    Ein anderer Niederländer, den man heute wenigstens noch dem Namen nach kennt, war Peter Stuyvesant. Er war der Gouverneur mit dem Holzbein, der 1647 nach Neu Amsterdam abkommandiert wurde. Stuyvesant war das genaue Gegenteil Van der Doncks: Das Land, das Van der Donck verstehen wollte, wollte Stuyvesant beherrschen. Die Gesellschaft, die Van der Donck neu formen wollte, wollte Stuyvesant nach altherbebrachtem monarchischem Muster in die Schranken weisen. Es dauerte nicht lange und die beiden Männer lagen sich in den Haaren.

    Dass sie in ihren Bestrebungen letztlich beide scheiterten, war jedoch nicht ihre Schuld. Wie Russell Shorto zeigt, waren dafür die Machtkämpfe zwischen den grossen Handelsnationen Europas verantwortlich. Für England, die Niederlande und Spanien bildeten die Kolonien kostbare Einnahmequellen, aber auch Beuten, die aufzugeben man bereit war, wenn Grösseres auf dem Spiel stand.

    Das holländische Experiment fand durch die Übernahme Neu-Amsterdams durch die Engländer 1646 offiziell ein Ende. Die unzähligen Akten, Briefe, Testamente, Tagebücher, kurz, all die Papiere, die die Anfänge New Yorks und des amerikanischen Traumlandes dokumentieren, sie alle gerieten in Vergessenheit.

    Ironischerweise wurde die niederländische Kolonialgeschichte in Amerika, bzw. die Papiere, die ihre Existenz belegen, gerade durch ihre Nichtbeachtung gerettet. Die Konvolute entgingen einem verheerenden Feuer in der New Yorker Staatsbibliothek in Albany, weil sie so weit oben auf dem Regal vor sich hin staubten, dass die Flammen sie nicht erreichen konnten.
    Russell Shortos "New York – Insel in der Mitte der Welt" ist ein eindrückliches Werk, mit Mängeln, die nur wenige Sachbücher nicht aufweisen. Es gibt darin unendlich viele Namen und Biografien, die im Kopf zu behalten unmöglich ist.

    Ein Namensregister der wichtigsten Personen wäre hilfreich gewesen ebenso wie ein Überblick über die wichtigsten Daten. Dafür, dass die Lektüre spannend bleibt, sorgt Shorto mit der bereits angedeuteten Fülle konkreter Einzelheiten. Sie vermitteln einen Eindruck des Alltags im New York des 17. Jahrhunderts. Wo aus privaten und öffentlichen Aufzeichnungen zitiert, wo über den Preis von Otterfellen verhandelt oder von fremden, zweifelhaften und neuen Sitten die Rede ist, da wird Vergangenheit lebendig. Es gelingt Russell Shorto den Leser durch die verwinkelten Gänge der Geschichte zu führen, einer Geschichte, die kennenzulernen es höchste Zeit ist.

    Russell Shorto
    New York – Insel in der Mitte der Welt. Wie die Stadt der Städte entstand
    Rowohlt Verlag, 450 S., EUR 22,90