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Niederlande
An den Hochschulen rumort es

In den Niederlanden protestieren Studenten und Dozenten, ob in Amsterdam, Utrecht oder Maastricht, gegen die generelle Ausrichtung der Hochschulen. Sie fordern eine andere Art von Wissenschaft, einen Systemwechsel bei Lehre und Forschung. Und die Kritiker haben Hoffnung, Gehör zu finden.

Von Ralf Lachmann | 15.08.2015
    Altes Hauptgebäude der Universität in Utrecht/Holland.
    Auch an der Universität von Utrecht protestieren Studenten und Dozenten. (picture-alliance / dpa / Robert B. Fishman ecomedia)
    Wissenschaftsphilosoph Hans Radder ist einer der Vordenker eines Systemwechsels. Der 65-jährige Amsterdamer Professor gehört zur Widerstandplattform namens "Hervorming Nederlandse Universiteiten", also Reform niederländischer Universitäten.
    "Es gibt sehr viel Unfrieden in niederländischen Hochschulen unter den Studenten! Und unter den Mitarbeitern und Professoren! Wegen des immer stärkeren Unmuts kam die Idee auf, wir müssen was verändern!"
    Der sich ausbreitende Neoliberalismus habe längst auch die Unis erfasst, beklagen die Kritiker. Dazu zählt auch Professor Frank Miedema. Der Immunologe von der Universität Utrecht widmete sich als junger Forscher beispielsweise dem Kampf gegen AIDS. Jetzt streitet er auch für einen Wissenschaftsbetrieb, der wieder vor allem den Menschen dienen soll. Dazu hat er die Widerstandsplattform Science in Transition, Wissenschaft im Wechsel, mitbegründet. Bei seinen Vorträgen dazu, die er auf Englisch hält, sind die Hörsäle voll. Forscher dürften nicht länger nur im Elfenbeinturm sitzen und dafür arbeiten, dass es ökonomisch kurzfristig voranginge, sagt Professor Miedema: "Gesellschaft, also die Menschen sollten in die Laboratorien gehen, in die Unis. Zum Beispiel Patienten sollten mit den Medizinforschern sprechen, diskutieren: Welche Form von Wissenschaft brauchen wir? Natürlich werden sie nicht die Agenda festlegen. Aber sie sollen mitgestalten. Ich nenne das Co-Creation!"
    Auch mehr Mitsprache für Dozenten und Studenten, fordern beide Widerstandsplattformen ein. Es sei dringend nötig, so Wissenschaftsphilosoph Radder: "In den 1960er- und 70er-Jahren gab es eine Demokratisierung der Universitäten. Mehr Mitsprache für Studenten, die Professoren und deren Mitarbeiter. Seit 1997 aber haben wir das Gesetz Modernisierung der Hochschulverwaltung. Seither werden Mitspracherechte drastisch zurückgedreht. Es gilt nicht mehr bottom up, sondern top down."
    Heutzutage würde nur noch von oben bestimmt, gemangt und kontrolliert! Beklagt wird eine Überbürokratisierung. Und vieles drehe sich lediglich noch um Punkte, Zahlen und Geld. "Um es konkret zu machen: Ist ein Student in einer Prüfung erfolgreich, erreicht zum Beispiel sechs von zehn Punkten, dann bekommt die Fakultät dafür Geld. Pro Punkt so 60 bis 90 Euro! Da wird nicht mehr geschaut, hat ein Student es gut gemacht. Nein, es geht nur noch um Finanzen! Das sehen Sie in vielen Bereichen der Gesellschaft."
    Die Uni-Rektoren in großen Städten hätten inzwischen weit höhere Jahresgehälter, als der niederländische Ministerpräsident. Auch dies sei ja Ausdruck ihres Machtanspruchs, merkt der Amsterdamer Professor kritisch an. Und sein Kollege aus Utrecht betont in seinen Vorträgen auch immer wieder die Rolle des Gewinndenkens: Geforscht werde vor allem, wenn sich damit kurzfristig verdienen ließe. Und so würden von vornherein in erster Linie Forschungsprojekte finanziell gefördert, aus denen sich Kapital schlagen ließe. "Und darum gibt es einen ausufernden Konkurrenzkampf! Die Forscher streiten nur noch ums Geld! Und das hat die Seele der Wissenschaft wirklich verändert. Wirklich!"
    Kürzungen in fast allen Bereichen
    Verteilt würden die Finanzmittel von Staat, EU und aus der Wirtschaft außerdem allzu oft aufgrund fragwürdiger Kriterien: Es zähle, wieviel wissenschaftliche Artikel und Bücher ein Professor veröffentlicht. Wie oft er zitiert werde - und wo, also welchen Stellenwert das jeweilige Fachjournal habe. Also werde im Turbowettlauf ständig publiziert: Weit über 1,3 Millionen wissenschaftliche Veröffentlichen pro Jahr - und die Zahl steige weiter, sagt Immunologe Miedema: "Wir zählen die Veröffentlichungen! Und jeder macht viele, um die Karriere voranzubringen: Das ist heute der einzige Weg in der Wissenschaft zu überleben! Das sind mehr Veröffentlichungen, als man je lesen könnte. Oder auch nur überschauen könnte. Das ist wirklich ein Informationsdesaster!"
    Und vieles davon halte einer Überprüfung nicht mal Stand. Dazu vertritt der Professor aus Utrecht die These: Die Hast produziert auch jede Menge Überflüssiges: Und dies sei das größte Problem. Was nicht lukrativ genug erscheint, soll einfach verschwinden. So wie der Fachbereich Biologie an der Freien Universität Amsterdam. Das hatte dem Protest erst landesweit so richtig Schub verliehen.
    Es wurde nicht nur lautstark vor der Uni demonstriert: "Anfang dieses Jahres gab es schließlich Proteste von Stundeten und Professoren. Die Besetzung in meiner Universität durch Biologiestudenten. Weil ihr Studiengang auslaufen sollte, aus nicht nachvollziehbarem Geldmangel."
    Auch Geistes- und Sozialwissenschaften kämen im jetzigen Wissenschaftsbetrieb immer mehr zu kurz. Ebenso die Grundlagenforschung. Überall dort werde gekürzt! Auch gäbe es immer wieder Entlassungen, würden Dozenten nur noch Zeitverträge bekommen. Weil nur noch kurzfristig gedacht würde. Meist in drei Jahresintervallen, wenn wieder Fördergelder für Projekte ausliefen. "Wir leben in einer komplexen Gesellschaft, in einer demokratischen Gesellschaft. Die braucht, wie man auf Deutsch sagt 'Ne gut Öffentlichkeit'. Eine öffentliche Debatte über alle Lebensbereiche. Darum spielen Geisteswissenschaftler eine große Rolle. Historiker, Philosophen, Sozialwissenschaftler sind echt nötig. Um die Debatte in einer komplexen Gesellschaft mitzugestalten."
    Künftig müsse man Forscher finanziell fördern, die sich über zehn Jahre und länger den großen Herausforderungen der Zukunft widmen. Befreit vom Druck, ständig publizieren zu müssen, sagt Professor Frank Miedema: "Klimawandel, die Welternährung, das Gesundheitssystem, wir müssen über Institutionen, Demokratie nachdenken, darüber, was Regierungen tun sollten. Für all diese großen Fragen brauchen wir die Wissenschaft. Damit es gesellschaftlichen Fortschritt gibt!"
    Letztlich solle Wissenschaft wieder dem Wohl der ganzen Menschheit dienen, wünschen sich die Gegner des heutigen Forschungsbetriebs. Sie wollen auch wieder ein besseres Arbeitsklima, für Stundeten und Dozenten, vielfach herrschten Angst und Druck. Und all dies könnten nur demokratische, reformierte, eben neue Universitäten leisten. Professor Radder schlägt beispielsweise einen runden Tisch vor, um einen Systemwechsel anzustoßen. Und er ist optimistisch. Wie auch sein Kollege, Professor Miedema: "Es ist möglich! Aber die Spielregeln müssen geändert werden." Jetzt endlich sei auch die Politik aufmerksam geworden.