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Niederlande
Menschenkette gegen Pannen-Atomkraftwerke

"Kettenreaktion Tihange" haben sie die Protestaktion genannt, um auf die Risiken hinzuweisen, die vom Pannen-Atomreaktor für die Region ausgehen. Eine 90 Kilometer lange Menschenkette wollen Aktivisten am Sonntag bilden. Auch viele Niederländer werden dabei sein, deren Protest erst langsam wächst.

Von Kerstin Schweighöfer | 23.06.2017
    Blick auf das Atomkraftwerk Tihange in Belgein vom Flussufer der Maas aus betrachtet - am 23.04.2011. Links im Vordergrund ein Schwan.
    Das belgische Atomkraftwerk Tihange liegt direkt an der Maas, flussaufwärts. (imago/Xinhus)
    Die Maas bei Stein, einer kleinen Gemeinde im Süden der Niederlande. Bis nach Aachen sind es von hier nur 35 Kilometer, ins belgische Lüttich kaum weiter.
    Armand Pinkaarts, ein 47jähriger Manager, kommt aus Stein. Als begeisterter Sportler kennt er das Gebiet wie seine Westentasche, schon dreimal hat er an Triathlons in der Region teilgenommen und zum Training fährt er mit seinem Rennrad gerne am Fluss entlang auf dem Deich:
    "Da ist die Aussicht wunderbar, da sind Autos die Ausnahme."
    Aber, erzählt er mit einem nachdenklichen Blick über die ruhige Wasserfläche:
    "Auch das belgische Atomkraftwerk Tihange liegt direkt an der Maas, rund 80 Kilometer flussaufwärts. Das Kühlwasser des Reaktors fließt hier vorbei und strömt weiter Richtung Rotterdam. An und für sich ist das kein Problem. Aber in diesem Kernreaktor sind Hunderte von Rissen entdeckt worden! Die Behörden sprechen verharmlosend von kleinen Ritzen, dabei sind sie bis zu 15 Zentimeter groß! Ich bin nicht grundsätzlich gegen Atomkraft, darum geht es mir nicht, aber wenn, dann hat es 100 Prozent sicher zu sein. Tihange ist ein Sicherheitsrisiko und muss sofort abgeschaltet werden!"
    Viele neue Bürgerinitiativen warnen vor Gefahren
    Bei der großen Menschenkette, die Sonntag von 60.000 Bürgern im Dreiländereck gebildet werden soll, 90 Kilometer lang von Tihange bis Aachen, wird Pinkaarts deshalb nicht fehlen. Und er ist nicht bloß Teilnehmer dieser grenzüberschreitenden Protestaktion von Belgiern, Niederländern, Luxemburgern und Deutschen - sondern auch Mitbegründer einer der vielen neuen Bürgerinitiativen im Süden der Niederlande, die mit Aufklärungskampagnen ihre Mitbürger mobilisieren und auf das Problem aufmerksam machen wollen:
    "Ich glaube, wir Niederländer sind einfach weniger skeptisch als die Deutschen. In erster Instanz haben wir mehr Vertrauen in das, was uns Behörden und Kontrollinstanzen erzählen."
    Doch dieses Vertrauen beginnt zu bröckeln.
    Peer de Rijk kann das nur bestätigen. Er steht 200 Kilometer weiter nördlich in Amsterdam in seinem Büro. Der große Tisch ist über und über mit Flugblättern bedeckt, mit Infobroschüren und Postern. "Kettenreaktion Tihange" steht in drei Sprachen darauf.
    De Rijk ist Direktor von Wise, einer Stiftung, die den niederländischen Teil der Menschenkette koordiniert und gut 20 Busse im ganzen Land organisiert hat, die Sonntag nach Aachen abfahren - nicht nur aus südniederländischen Städten, auch aus Amsterdam, Groningen oder Middelburg. Mindestens 5.000 der 60.000 Teilnehmer sollen aus den Niederlanden kommen. "Das schaffen wir spielend!", glaubt er.
    Von "Atomausstieg nach deutschem Vorbild" sind die Niederlande noch weit entfernt
    Die Stiftung Wise setzt sich für einen Atomstopp nach deutschem Vorbild ein. Doch davon sind die Niederländer weit entfernt. Das Atomkraftwerk in Borsselle in Seeland soll erst 2032 stillgelegt werden. Der Bau eines neuen zweiten Meilers war geplant. Die Christdemokraten und die rechtsliberale VVD-Partei des amtierenden Ministerpräsidenten Mark Rutte hatten sich dafür stark gemacht. Doch 2015 wurden diese Pläne mangels möglicher Betreiber auf Eis gelegt.
    Nach der Pannenserie in Tihange hat eine knappe Mehrheit der Abgeordneten im Parlament in Den Haag die Verkehrsministerin Melanie Schultz aufgerufen, bei der belgischen Regierung auf eine Schließung des Meilers zu drängen. Doch Schultz gehört der VVD an. Dementsprechend schwach, so de Rijk, sei ihr Signal an die Belgier ausgefallen. Und ähnlich schwach sei auch die niederländische Anti-Atomkraftbewegung:
    "In dieser Hinsicht liegen zwischen Deutschen und Niederländern Welten. Niederländer sind viel gleichgültiger, sie lassen sich für die Umwelt nur schwer mobilisieren. Was übrigens auch für die Belgier gilt.
    Umso überraschter sind wir darüber, dass sich nun doch so viele Menschen an der Kette beteiligen wollen. Wenn in Tihange etwas passiert, muss die ganze Region evakuiert werden. Darüber werden sich immer mehr Menschen bewusst - inspiriert durch Deutschland, wo alles begann!"