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Niederlande
Zurück ins Hotel Mama

In den Niederlanden klopft jeder vierte junge Erwachsene innerhalb von fünf Jahren wieder bei den Eltern an und will aufgenommen werden. Die sogenannten Bumerangkids finden keine Wohnung, verlieren ihren Job, haben Geldprobleme oder eine Beziehung, die in die Brüche geht - zum Ärger der Eltern, die ihre neue Freiheit eigentlich genießen wollten.

Von Kerstin Schweighöfer | 08.09.2016
    Das unaufgeräumte Zimmer eines elf-jährigen Mädchens aufgenommen in Isny (Schwaben).
    Bumerangkids - kommen zurück nach Hause, weil sie in der unsicheren Welt draußen nicht klarkommen. (picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildebrand)
    Ihr altes Zimmer hat sie nicht mehr zurückbekommen, sie muss mit dem viel kleineren ihrer jüngeren Schwester vorliebnehmen. Darin türmen sich nun Bücher und Umzugskartons.
    "Als ich vor vier Jahren aus dem Haus ging, hat meine Schwester sofort mein viel größeres Zimmer beschlagnahmt. Die ist inzwischen auch nicht mehr zuhause und studiert, aber jetzt dient es meiner Mutter als Arbeitszimmer."
    Doch Annabel de Koning ist froh, überhaupt wieder ein Dach über dem Kopf zu haben – ein festes Dach. Die 23-jährige Niederländerin hatte große Mühe, eine bezahlbare Studentenwohnung zu finden; im vergangenen Jahr ist sie viermal umgezogen. Jetzt wohnt sie wieder bei den Eltern in Naaldwijk, rund 20 Kilometer südwestlich von Den Haag.
    "Endlich bin ich diesen konstanten Umzugsstress los und habe einen stabilen Ort, wo ich zuhause bin."
    "Jetzt kann ich mich in Ruhe auf mein Examen vorbereiten. Auch finanziell war es eine gute Entscheidung."
    Annabel gehört zu den sogenannten Bumerangkids: Junge Erwachsene, die wieder nach Hause zurückkehren. Weil sie, so wie Annabel, keine Wohnung finden können, ihren Job verlieren, Geldprobleme haben oder die Beziehung in die Brüche geht. Das sind die häufigsten Gründe, weiss Jan Latten vom niederländischen Statistikamt CBS. Er spricht von einem Trend:
    "Die Kinder verlassen das Haus, die Eltern denken: Okay, die sind wird los - aber weit gefehlt: Sie kommen zurück, wie ein Bumerang."
    25 Prozent der Kinder kehren innerhalb von fünf Jahren zurück
    Inzwischen steht in den Niederlanden jedes vierte Kind innerhalb von fünf Jahren wieder bei den Eltern vor der Tür, also 25 Prozent. Vor zehn Jahren waren es 20 Prozent, vor 20 Jahren nur 16 Prozent. Für CBS-Forscher Latten ist die jetzige Generation der 20-jährigen eine "Flexgeneration”, die sich in allen Lebenslagen flexibel erweisen müsse:
    "Sie hat weniger Sicherheiten. Es gibt weniger feste Arbeitsstellen. Auch die Beziehungen halten nicht mehr so lange."
    Und so ist auch das Flüggewerden nichts Unumkehrbares mehr, man kann dafür mehrere Anläufe nehmen. Für die Eltern der Bumerangkids war eine Rückkehr in der Regel noch ausgeschlossen – auch für Annabels Mutter Marlen Smal:
    Aber damals war das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern auch weitaus weniger freundschaftlich. Heute erfahren Jugendliche zuhause viel weniger Widerstände. Oft leben sie wie Singles im Haus der Eltern, bevor sie es verlassen.
    Dennoch ist die Rückkehr gewöhnungsbedürftig – für beide Seiten, betont Annabels Mutter:
    "Als bei uns auch die Jüngste aus dem Haus war, musste ich mich einerseits zwar erst an die Leere gewöhnen. Aber das ging überraschend schnell. Ich habe meine Töchter sehr verwöhnt, einmal lag bei uns sogar eine Matte vor der Tür, auf der "Hotel Mama" stand.
    Nach Abschluss des Studiums ein zweites Mal flügge werden
    Als die Kinder dann weg waren, musste ich viel weniger Rücksichten nehmen. Ich war freier, sorgloser – und alles war viel sauberer und aufgeräumt. Auch mein Auto hatte ich wieder ganz für mich alleine. Und es war sehr schön zu entdecken, wie gut mein Mann und ich es nach 25 Jahren zusammen noch haben."
    Bis Annabel plötzlich wieder vor der Tür stand, und das "Hotel Mama” nach 14 Monaten wieder seine Pforten öffnete:
    Die Tochter wiederum musste sich daran gewöhnen, vom Studentenleben nun weit entfernt zu sein und in den eigenen vier Wänden nie mehr so richtig ihre Ruhe zu haben. Auch beim Abendessen musste sie wieder anpassen: Denn das steht bei den Eltern schon spätestens um sechs auf dem Tisch.
    "Aber wer bin ich, um meinen Eltern vorzuschreiben, wann sie zu essen haben”, meint Annabel mit einem gespielten Seufzer und begibt sich in die Küche, denn zweimal pro Woche ist sie mit dem Kochen dran. Dafür hat die Mutter gesorgt.
    Aber trotz allem genießen Mutter und Tochter, wieder so intensiv zusammen zu sein. Sie verbringen ganz bewusst viele gemeinsame Momente. Zumal beide wissen, dass das "Hotel Mama” nicht für immer geöffnet bleiben wird. Denn sobald Annabel ihr Studium abgeschlossen hat und ihr eigenes Geld verdient, soll und will sie ein zweites Mal flügge werden. Bis dahin betrachtet Marlen Smal ihr Bumerangkind als Geschenk, das ihr unerwartet wieder in den Schoss gefallen ist.