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Niels Werber: "Ameisengesellschaften"
Faszination Organisation

Nach umfassender Recherche beschreibt der Literaturwissenschaftler Niels Werber in seinem Buch "Ameisengesellschaft" was die kleinen, gut organisierten Tiere mit den Menschen gemeinsam haben. Seine Faszination für die Genialität der Natur ist ansteckend.

Von Matthias Eckoldt | 20.01.2014
    "Die Ameise mit ihren sechs Beinen, ihrer Chininpanzerung, ihren Antennen und Zangen, ihrem modularen, zweifach geteilten Torso sieht denkbar anders aus als ein Mensch. Vergleichbar macht sie nicht ihr Äußeres, obschon hier Fabeln, Comics oder Animationsfilme mit mehr oder minder menschenähnlichen Illustrationen nachhelfen. Vergleichbar macht sie vielmehr ihre Sozialität."
    Insofern ist die Ameise ein politisches Tier, dessen Genese sich Niels Werber in seinem Buch widmet. Der Singular ist in diesem Falle beredt. Denn nur die Fabel – älteste Zeugnisse finden sich bei dem Begründer der Gattung Äsop 600 vor Christus – redet von der Ameise. In Philosophie, Staatstheorie und später dann Soziologie gibt es die Ameisen nur im Plural. Nicht das einzelne Insekt interessiert, sondern ihr Gemeinwesen. Der Literaturwissenschaftler Niels Werber geht mit feinem Spürsinn und souverän recherchiertem Material den Spuren nach, die das Gewusel der Ameisen in die Geistesgeschichte gezeichnet hat. "Ameisengesellschaft" kann man sowohl als Mediengeschichte, Kulturgeschichte, oder Metapherngeschichte lesen. Werber selbst nennt seine Untersuchung im Untertitel eine "Faszinationsgeschichte":
    "Das Erstaunliche an dem Feld der Ameise ist, dass es seit zweieinhalbtausend Jahren funktioniert, mit dem Bild der Ameise zu arbeiten und immer wieder gesellschaftliche Selbstbeschreibungen mit diesem Modell zu verbinden. Man findet immer Parallelen, Analogien, Horrorszenarien. Und das ist ja wirklich erstaunlich, dass das seit dem Alten Testament - seit den Sprüchen Salomos so ist. Da dachte ich, wie soll man das anders fassen als in so einem Wort, um eben auszudrücken, dass da wirklich eine jahrtausendelange Faszination an diesem Bild festhält, ohne dass es immer das Gleiche ist."
    Zweieinhalbtausend Jahre klingen in Ameisendimensionen nicht sonderlich beeindruckend. Das krabbelnde Volk kann immerhin auf eine Evolutionserfolgsgeschichte von über einhundert Millionen Jahren zurückblicken. Solange schon bauen die Ameisen ihre Hügel, und jedes Gemeindemitglied weiß, was es zu tun hat. Die Stabilität der Ameisenart, für die das menschliche Treiben aufs Ganze gesehen nicht mehr als eine flüchtige Ausrichtung ihrer Antennen ist, macht sie zu einem idealen Untersuchungsgegenstand: Da sich die Ameisenstaaten während des Aufstiegs der menschlichen Kultur nicht verändert haben, ermöglichen sie im Umkehrschluss den Blick auf die unterschiedlichen Perspektiven, die wir Menschen auf sie haben.
    Als Mediengeschichte, Kulturgeschichte oder Metapherngeschichte zu lesen
    Mit dieser Analyserichtung, die mehr über uns als über die Ameisen ans Licht fördert, nimmt Niels Werber Kurs auf die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. So ist es bezeichnenderweise die Aufklärung, die folgende Frage zu formulieren versteht: Wie schaffen es die Ameisen trotz ihrer hierarchielosen Organisationsstruktur eine Ordnung zu erzeugen und aufrecht zu erhalten? Diese Frage ist laut Werber deswegen so beredt, da sie zu einer Zeit formuliert wird, in der die Monarchie als Staatsform zu bröckeln beginnt. So steht die Ameisengesellschaft, in der es weder einen Monarchen, noch eine andere zentralistische Führungsform gibt, etwa bei Lessing für die Republik: demokratisches Gewusel der Ameisen versus streng geordnete, geradezu aristokratische Waben-Struktur der Bienen mit ihrer Königin im Zentrum.
    "Lessing profiliert eine Alternative zur Verfassung der Bienen und setzt damit die Staatsverfassung kontingent. Sie ist folglich weder gottgegeben noch alternativlos, weder notwendig noch unvermeidlich. Die Beobachtung der Ameisen wird hier zu einem Katalysator von Aufklärung und Kritik."
    Trotz seiner bis zu Aristoteles ausgreifenden historischen Wurzeln findet Werbers Untersuchungsgang seinen Schwerpunkt im 20. Jahrhundert. Carl Schmitt weist Werber durchaus nachvollziehbare Verbindungen zur Ameisenforschung – Fachbegriff Myrmekologie – nach und mutmaßt, dass sich der Staatstheoretiker bei der Ameisengesellschaft die Eliminierung des Eigennutzes für seinen Entwurf des totalen Staat abgeschaut haben könnte. Auch dem bekennenden Entomologen Ernst Jünger kommt Werber auf die literarische Schliche. Beim Vergleich seiner Kriegstagebücher mit seinen späteren literarischen Verarbeitungen des Ersten Weltkriegs wird evident, in welchem Maße Jüngers Kenntnisse der Insektenkunde im Allgemeinen und der Ameisen im Besonderen seine Sicht der gesellschaftlichen Zustände strukturieren.
    "Parallel zu den Neudeutungen seiner Kriegserlebnisse und Umschriften seiner Feldtagebücher im Blick auf seine politische Positionierung in der späten Weimarer Republik gewinnt Jüngers Bild der Ameisengesellschaft immer mehr an Bedeutung. 1932 gilt schließlich: Wo jemand steht, ist eine Frage der effizienten Organisation, nicht des Rangs oder der Geburt."
    In dieser Weise verfolgt Werber die Spuren der Ameisengesellschaft im Selbstverständnis der menschlichen Ordnung und gelangt mit der Analyse der Parallelentwicklung von Soziologie und Myrmekologie zu einer kleinen Sternstunde dieser Art der Wissensarchäologie, für die der französische Philosoph Gilles Deleuze das Wort 'rhizomatisch' verwendete. Man sucht nach Verbindungen, die jedoch unterirdisch und weit verzweigt sind wie das Rhizom, das Wurzelgeflecht der Pflanzen. Hier kommt es auf eine besondere Art der Intuition wie auf möglichst breites Wissen an. Niels Werber verfügt über beides. Und so sieht er die Ameisenforschung wie die Soziologie im 20. Jahrhundert vor derselben Frage stehen. Nämlich: Wie ist das Zusammenleben großer Populationen zu erklären, wenn man auf die Individualität des Einzelnen keinen Bezug mehr nehmen kann, da offensichtlich die Gesamtheit der Gesellschaft mehr ist als die Summe seiner Individuen?
    Wie sich Gesellschaften selbst beschreiben
    "Ich muss nicht den Menschen im Einzelnen beobachten, sondern ich muss so was beobachten wie soziale Medien, Funktionssysteme, Kommunikation, Vernetzung. Also die Relationen. Und genau das machen natürlich Entomologen natürlich sowieso. Sie können ja nicht qualitativ arbeiten in dem Sinne: Hey, Ameise, wie fühlst du dich eigentlich? Oder: Was macht ihr denn da? Die können nur von oben schauen und sehen, aus welchen Regeln entstand eigentlich dieses Funktionieren als Ganzes. Und dann haben Sie eben eine systemtheoretische Entomologie, aber auch eine systemtheoretische Soziologie. Also die Methoden befruchten sich da gegenseitig."
    "Ameisengesellschaft" von Niels Werber liest sich trotz seines komplexen Gegenstandes leicht und spannend. Der 1965 geborene Autor pflegt einen Stil, den nur noch die Ernsthaftigkeit mit dem trockenen akademischen Diskurs verbindet. Zudem versteht es Werber, den Leser derart für seine Spurensuche zu begeistern, wie es mancher Krimi nicht vermag.
    Wenn Werber am Ende des Buches auf Schwarmintelligenzforschung zu sprechen kommt, die ihren Ausgangspunkt in der Ameisenkunde hat, schließt sich der Kreis des Untersuchungsgangs. Die Kommunikationsgesellschaft scheint demnach dabei zu sein, aus der Idee und Praxis des Schwarms auch ein neues Menschenbild abzuleiten. Das allerdings zeigt nicht mehr den kühnen, seelenvollen Göttersohn, sondern den "simple mind". Den auf seine Schwarmeigenschaften reduzierten Einzelnen, der nichts Besonderes mehr sein eigen nennt und den Algorithmen des Netzes unterworfen ist.
    "Ein einfaches Beispiel wäre Amazon. Also die bekannte Erfahrung: Man kauft etwas und dann sagt einem das System: Wenn Sie das interessiert, interessiert Sie im Grunde auch das. Und dieser Algorithmus ist ein Algorithmus, der tatsächlich aus der Schwarmintelligenzforschung - also aus der Verhaltensbeobachtung der Ameisen gezogen ist. Um die Schleife jetzt weiterzudrehen - dann sind wir eigentlich Ameisen in dem Sinne, dass wir uns jetzt auch diesem Algorithmus überlassen und sagen: Wow, wenn alle das kaufen, dann kaufe ich das natürlich auch. Dann sind wir eigentlich von einem künstlichen Ameisennest, wie es Amazon ist, selber auch zu einer Ameise gemacht worden."
    Glücklicherweise jedoch ist Werber systemtheoretisch geschult genug, um auch bei diesem Schlussakkord konsequent beim Beobachten der Selbstbeschreibungsmodi von Gesellschaften zu bleiben und nicht in Kulturkritik zu verfallen.
    Niels Werber: Ameisengesellschaften - Eine Faszinationsgeschichte
    S. Fischer Verlag, 475 Seiten, 24,99€