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Niger
Hunderttausende Menschen leben als Sklaven

Obwohl die Sklaverei in Niger seit 2003 unter Strafe steht, leben immer noch hunderttausende Menschen unfrei, weil der Staat seine Bürger nicht schützt. Denn die Sklaverei ist immer noch fester Bestandteil der dortigen Kultur.

Von Naomi Conrad | 30.08.2014
    Kinder und Erwachsene arbeiten auf einem Feld mit Salatpflanzen in Niamey im Niger.
    Bis zu 800.000 Menschen sind im Niger versklavt und müssen zum Beispiel Felder bestellen. (AFP / Issouf Sanogo)
    Das Auto schlängelt sich um die Schlaglöcher und Müllberge auf der breiten Sandstraße im Zentrum von Niamey. Zwischen den hohen Mauern der Villen spielen junge Männer Fußball, um ihre nackten Füße wirbeln orangenfarbene Staubwolken und ein paar Plastiktüten. Am Ende einer holprigen Seitenstraße überragt eine große Baustelle zwei runde Verschläge aus Stroh und dicken Gummireifen.
    Im Schatten einer der Verschläge sitzt Tamazrat Ousame auf einer wackeligen Holzbank. Vor fast zehn Jahren flüchtete die kleine, zierliche Frau nach Niamey, in die Hauptstadt des Niger. Doch wenn sie sich heute an die schlimme Zeit erinnert, senkt sie den Blick und ihre schmalen Hände kneten unentwegt die Enden des Tuchs, das sie um ihren Kopf und ihre Schultern gewickelt hat.
    "Den ganzen Tag musste ich arbeiten und Essen machen. Jeden Tag musste ich ganz weit laufen, um Wasser zu holen. Und jedes Mal wenn die Familie weitergezogen ist, musste ich das Zelt erst ab- und später wieder aufbauen."
    Eigentum einer Nomadenfamilie
    Ousame zeigt auf ihre Füße, auf die tiefen Risse darin - Narben aus der Zeit, in der sie niemand Tamazrat Ousmane nannte - sondern einfach nur "Sklavin".
    "Im Winter habe ich wirklich an der Kälte gelitten, weil ich nicht im Zelt schlafen durfte. Nur manchmal, wenn es geregnet hat, durfte ich in der Ecke des Zeltes schlafen. Sonst musste ich immer draußen sein. Immer."
    Ousame war vier, höchstens fünf, als sie zum Eigentum einer hochrangigen Nomadenfamilie wurde. Ihre Mutter hatte für eine kurze Zeit für die Familie gearbeitet - als die Nomaden weiterzogen, nahmen sie die kleine Ousmane einfach mit. Ihre Eltern hat die heute 37-Jährige nie wiedergesehen.
    Ousame wurde damit über Nacht zu einer von mehreren hunderttausend Sklaven im Niger. Wie viele Menschen genau als Haussklaven gehalten werden - oder unentgeltlich die Felder ihrer Herren bearbeiten, weiß niemand. Vielleicht sind es 800.000, vielleicht weniger. Almansour Galissoune zuckt mit den Schultern. Sein geräumiges Wohnzimmer ist nur ein paar Straßen von Ousames Verschlag entfernt, eine Klimaanlage läuft, auf dem Boden spielt seine Tochter. Zusammen mit anderen Freiwilligen der Menschenrechtsorganisation Timidria - zu deutsch "Solidarität" - hilft Galissoune Menschen, die der Sklaverei entfliehen konnten. Er vermittelt Notunterkünfte und Lehrer, die ihnen Lesen und Schreiben beibringen. Seit ein paar Jahren unterstützen die Freiwilligen auch ehemalige Sklaven, die ihre Herren verklagen wollen: 2003 hat der Niger ein Gesetz verabschiedet, das die Sklaverei unter Strafe stellt. Wer Menschen verkauft oder hält, der kann mit bis zu 30 Jahren Gefängnis bestraft werden.
    "Dieses Gesetz bedeutet natürlich nicht automatisch das Ende der Sklaverei im Niger."
    "Dieses feudale Denken existiert weiter"
    Zwar engagiert sich die Regierung seit einigen Jahren im Kampf gegen die Sklaverei und den Menschenhandel. Doch trotz aller Fortschritte gebe es immer wieder Rückschläge, erklärt Galissoune:
    "Die gelebte Sklaverei ist tatsächlich ein integraler Teil der unserer Kultur, ein Teil unserer Tradition. In unserer Gesellschaft gibt es starke Hierarchien und die bestehen weiter. Wir von Timidria versuchen, die Menschen zu sensibilisieren und ihnen beizubringen, dass diese Praktiken rückschrittlich sind. Aber dieses feudale Denken existiert weiter."
    Noch immer würden vielfach Kinder von Sklaven als das Eigentum ihrer Herren betrachtet. Galissoune glaubt, dass es noch Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte brauchen wird, bis im Niger keine kleinen Mädchen mehr ihren Eltern entrissen werden. Wie noch Tamazrat Ousame.
    "Ich habe damals nicht sofort verstanden, dass ich jetzt eine Sklavin war. Erst als die Nachbarn gesagt haben: guck mal, das ist die Sklavin von der Familie - habe ich erkannt, dass ich eine Sklavin bin. Ein Niemand. Ich habe versucht, meine Familie zu finden. Ich habe meinen Herren gefragt: Wo ist meine Familie? Leben sie noch?"
    Viele befreite Sklaven kehren zu ihren ehemaligen Herren zurück
    Ihr Herr habe ihr gesagt, ihre Eltern seien gestorben und sie sei jetzt ganz alleine. Für einen kurzen Moment ruhen ihre Hände, dann beginnen sie wieder, ihr Kopftuch zu kneten. 20 Jahre lang habe sie von der Freiheit und ihrer Familie geträumt, erzählt sie weiter. Dann, vor knapp zehn Jahren, sah Ousame von Weitem eine Militär-Patrouille in der Wüste. Sie rannte los, durch die Wüste, stundenlang - bis sie die Soldaten einholte. Zusammen kehrten sie zurück zu ihrem Herren und nahmen die drei Kinder mit, die Ousame während ihrer Gefangenschaft bekommen hatte.
    "Da wusste ich: Es ist vorbei."
    Die Soldaten brachten sie nach Niamey, wo sie eine Schneiderlehre machte. Sie heiratete, nach wenigen Jahren starb ihr Mann. Heute hangelt sie sich von einem Tag zum nächsten. Dennoch geht es ihr besser als anderen: viele befreite Sklaven kehren irgendwann zu ihren ehemaligen Herren zurück, weil sie im Niger, einem der ärmsten Länder der Welt, einfach keine Lebensgrundlage finden.
    "Ich weiß nicht, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn sie mich nicht gestohlen hätten. Aber es wäre besser als dieses."
    Ousame breitet ihre dünnen Arme aus und deutet auf die winzige Hütte, den Staub und ihr ausgeblichenes Kleid. Trotzdem: Alles ist besser, als die schlimme Zeit, als sie nicht einmal einen Namen hatte. Tamazrat Ousame lächelt. Es ist ein scheues, stolzes Lächeln.