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EU-Kommissar Nicolas Schmit
"Es geht um eine faire Lohnentwicklung in Europa"

Der EU-Kommissar für Beschäftigung, Nicolas Schmit, hat das derzeitige Lohngefälle in Europa als zu groß kritisiert. In vielen Ländern müssten deshalb die Mindestlöhne erhöht werden, sagte Schmit im Dlf. Langfristig sei das Ziel aber, Tarifpolitik und Sozialpartnerschaft in Europa zu stärken.

Nicolas Schmit im Gespräch mit Dirk Müller | 17.01.2020
Der Luxemburger Nicolas Schmit ist EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte
Der Luxemburger Nicolas Schmit ist EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte (picture alliance/ TT/ Karin Wesslen)
9,35 Euro, das ist der aktuelle Mindestlohn in Deutschland. 11,97 Euro wird in Luxemburg bezahlt. 1,72 Euro in Bulgarien. Der Mindestlohn in Europa ist heftig umstritten zwischen Regierungen, Gewerkschaften und Unternehmen. Wird es einen europäischen Mindestlohn geben, geben können? Wird es eine finanzielle Untergrenze geben, die den wirtschaftlichen Verhältnissen der Mitgliedsländer entspricht? Genau das will die Europäische Kommission, bessere Mindestlöhne in Europa. Das hat Ursula von der Leyen zumindest in Aussicht gestellt, die EU-Kommissionspräsidentin. Zuständig dafür ist der Luxemburger EU-Kommissar Nicolas Schmit.
"Das Lohngefälle ist einfach zu groß"
Dirk Müller: Müssen die Löhne teurer werden?
Nicolas Schmit: Die Löhne müssen, wie Sie das schon so schön gesagt haben, den wirtschaftlichen Bedingungen angepasst werden. Das heißt, dieses Lohngefälle, was ungefähr 1:6 ist, das ist einfach zu groß, entspricht auch nicht den wirtschaftlichen Verhältnissen in Europa, entspricht auch nicht den Produktivitätsverhältnissen in Europa. Deshalb brauchen wir eine gewisse Anpassung der Mindestlöhne.
Müller: Die Anpassung der Mindestlöhne zwischen den Ländern, oder höhere Mindestlöhne auch in den Ländern?
Schmit: Das heißt ja im Prinzip, dass es höhere Mindestlöhne in den Ländern gibt. Wir wollen ja jetzt nicht in den Ländern, wo die Mindestlöhne hoch sind, sie sich nach unten entwickeln lassen. Wir wollen ja eine positive Konvergenz, das heißt eine Konvergenz nach oben.
Müller: Sind alle Mindestlöhne in Europa dann zu niedrig?
Schmit: Das würde ich nicht unbedingt sagen, dass alle zu niedrig sind. Es gibt schon einige, die absolut zu niedrig sind. Sie haben ja die Zahlen genannt. Ein Mindestlohn von unter zwei Euro erlaubt auch den Menschen in diesem Mitgliedsstaat kein dezentes Leben zu führen und entspricht auch nicht den wirtschaftlichen Verhältnissen in diesen Ländern.
"Die allgemeine Lohnentwicklung in diesen Ländern zu niedrig"
Müller: Aber was ist Ihr Kriterium zu sagen, das und das müssen wir erreichen? Ist das dieser viel zitierte Mindestlohn am Beispiel des Durchschnittseinkommens, des Medians?
Schmit: Das ist ein Kriterium, ist aber nicht genügend, weil wir sehen, dass auch in Ländern, wo der Mindestlohn sehr niedrig ist, man sehr nahe an diesem Kriterium liegt. Das heißt ganz einfach, dass die allgemeine Lohnentwicklung in diesen Ländern zu niedrig ist.
Müller: Bulgarien ist das Beispiel. Da ist das so.
Schmit: Ja! Bulgarien ist ohne Zweifel das Beispiel. Wir wissen aber auch, wenn man Mindestlöhne erhöht, dann entsteht auch eine allgemeine Dynamik bei den Löhnen, und die zieht gewöhnlich auch die Löhne nach oben, und das ist ja das, was wir eigentlich wollen, und nicht nur die Kommission. Ich habe auch schon mal von anderer Seite gehört, dass es darum geht, auch jetzt in Europa die Löhne anzupassen. Wir brauchen faire Löhne, nicht nur, damit die Menschen ein dezentes Leben haben, sondern auch aus wirtschaftlichen, makroökonomischen Gründen.
Müller: Sie sagen, höhere Mindestlöhne, um Dynamik zu entfachen. Das sehen die Unternehmen ja anders. Die sagen, es wird dann alles teurer, dann sind wir nicht mehr wettbewerbsfähig.
Schmit: Ich glaube, das ist nicht so einfach. Wir brauchen ein faires Verhältnis zwischen Löhnen und allgemeiner wirtschaftlicher Entwicklung, und die Löhne hinken eigentlich dieser Entwicklung hinterher. Niedrige Löhne sind auch nicht unbedingt ein gutes wirtschaftliches Argument. Es geht auch darum, in innovative Prozesse zu investieren. Wenn Sie aber zu niedrige Löhne haben, dann investieren eigentlich die Unternehmen sehr wenig in solche innovativen Prozesse. Es geht ja auch um Produktivität. Ich glaube, das ist eigentlich ein sehr wesentlicher Bestandteil der Wettbewerbsfähigkeit.
"In Frankreich liegt der Mindestlohn leicht über der Armutsgrenze"
Müller: Sie werden damit argumentieren, höhere Mindestlöhne geben quasi Anschub für Motivation und für Investition, um einfach mehr Geld in den Kreislauf zu bringen?
Schmit: Unter anderem auch. Das zeigt, dass das viel breiter ist als nur dieses Kriterium der 60 Prozent.
Müller: Kommen wir noch einmal auf das Lohnniveau zurück in den einzelnen Mitgliedsstaaten, Herr Schmit. Ich hatte Sie gefragt, sind alle Mindestlöhne zu niedrig? Sie sagen, nein, nicht alle. Welche Länder bezahlen einen fairen Mindestlohn?
Schmit: Welche Länder bezahlen einen fairen Mindestlohn? Das sind die Länder, wo man davon ausgeht, dass die Menschen mit ihrem Mindestlohn nicht unter die Armutsgrenze fallen. Das ist ganz klar. Das ist ein Kriterium.
Müller: Nennen Sie uns ein Beispiel.
Schmit: Wir sehen zum Beispiel, in Frankreich liegt der Mindestlohn leicht über der Armutsgrenze.
Müller: 10,03 Euro.
Schmit: Ja. Wenn man das in der allgemeinen Lohnentwicklung sieht, dann kann ich sagen, das ist ungefähr das, was ein Minimallohn sein müsste.
Lebenshaltungskosten sind ein wesentliches Kriterium
Müller: Das wäre der Durchschnittslohn, wenn ich das noch einfügen darf. 62 Prozent, wenn die Zahlen hier stimmen, 62 Prozent des Median.
Schmit: Ja, ungefähr.
Müller: Gehen wir nach Luxemburg. 11,97 Euro, der höchste Mindestlohn in Europa, wenn wir das richtig gelesen haben.
Schmit: Ja.
Müller: Das sind aber nur 54 Prozent des Medians. Blicken Sie auch nach Luxemburg und sagen, das müssen wir etwas erhöhen?
Schmit: Ja! Das entspricht eigentlich auch nicht der allgemeinen Lohnentwicklung, und wir wollen ja auch, dass Mindestlöhne nicht unbedingt absolut von der allgemeinen Lohnentwicklung abgehängt werden. Ich kenne ja noch die Situation in Luxemburg. Da wird der Mindestlohn auch immer angepasst an die allgemeine Lohnentwicklung, hinkt aber dann immer hinterher. Man muss ja auch einen Blick auf die Lebenshaltungskosten werfen. Das ist ja auch ein wesentliches Beispiel.
Müller: Sie sagen als Luxemburger, zuständiger EU-Kommissar, auch in Luxemburg muss der Mindestlohn höher werden?
Schmit: Wenn ich das mit anderen Ländern vergleiche, dann ist das natürlich auch eine Diskussion wert, ja.
"Dafür sorgen, dass Menschen mit Mindestlohn ein dezentes Leben führen können"
Müller: Okay. – Reden wir über Deutschland, immer eine Diskussion wert. 9,35 Euro ist der aktuelle Mindestlohn, gerade um ein paar Cent erhöht worden. Nach der europäischen Lesart Median – das hatten wir gerade auch als Beispiel – müssten es zwölf Euro sein, denn jetzt sind es nur 46 Prozent dieses vielzitierten Medians. 9,35 dann auf zwölf Euro. Werden Sie das heute in Berlin fordern?
Schmit: Ich werde überhaupt nichts fordern. Ich spreche ja nicht über Zahlen. Ich sage nicht, in Europa muss ein Mindestlohn dieses Niveau erreichen. Wir müssen nur dafür sorgen, dass Menschen mit Mindestlohn ein dezentes Leben führen können, und das ist das Kriterium. Aber wenn es eine solche Situation in einem Mitgliedsstaat gibt, dann muss auch darüber diskutiert werden. Die Kommission hat jetzt nicht die Befugnisse zu sagen, in Deutschland muss der Mindestlohn dieses Niveau erreichen, oder in Luxemburg.
Müller: Aber Sie könnten sich damit anfreunden, zwölf Euro? Das ist ja zum Beispiel auch das, was die Sozialdemokraten fordern.
Schmit: Es geht jetzt für mich nicht darum, mich mit einer Zahl anzufreunden. Es geht darum zu versuchen, dass es in Europa eine faire Lohnentwicklung gibt. Dazu gehören auch Mindestlöhne und da gibt es auch nicht nur Wettbewerb. Es gibt auch makroökonomische Argumente. Lohnpolitik ist auch ein Bestandteil der allgemeinen Wirtschaftspolitik und das muss man natürlich auch im Auge behalten.
"Es geht jetzt nicht darum, in die Tarifpolitik einzugreifen"
Müller: Sie führen ja heute viele Gespräche in Berlin. Sie sind, haben Sie mir gesagt, nachher auch im Bundestag beziehungsweise mit Bundestagsabgeordneten verabredet.
Schmit: Ich bin auch beim BDI, das kann ich Ihnen auch sagen. Ich werde auch mit dem BDI darüber reden.
Müller: Wenn der BDI sagt, ist alles in Ordnung, dann sagen Sie, entspricht aber eigentlich nicht unseren Erwartungen, ist nicht fair, eine Diskrepanz von fast drei Euro.
Schmit: Es gibt Fairness und es gibt makroökonomische Argumente. Wir müssen beides sehen. Und es gibt natürlich auch Wettbewerbsfähigkeit. Ich sage nicht, dass man das völlig aus den Augen verlieren muss, aber es gibt verschiedene Arten, die wir alle durchdiskutieren müssen. Deshalb sagt die Kommission ja auch nicht, wir wollen einen einheitlichen Mindestlohn. Wir fordern sogar nicht eine absolut einheitliche Art und Weise, Mindestlöhne zu fixieren. Wir machen ja auch eine sehr enge Verbindung mit Tarifpolitik. Es geht jetzt nicht darum, in die Tarifpolitik einzugreifen. Ganz im Gegenteil!
Müller: Können Sie auch nicht!
Schmit: Nein, ganz im Gegenteil! Ich habe das aber gelesen, dass verschiedene uns vorwerfen, wir würden jetzt in die Tarifpolitik eingreifen. Nein!
"Tarifpolitik ist eigentlich die bessere Lohnfindung"
Müller: Die Gewerkschaften tun das ja teilweise.
Schmit: Nein! Tarifpolitik bleibt Sache der Sozialpartner in allen Ländern, besonders auch in denen, die keinen Mindestlohn haben.
Müller: Herr Schmit, das sagen beispielsweise die Schweden und die Dänen. Die haben gar keinen Mindestlohn.
Schmit: Ja, haben aber starke Tarifpolitik.
Müller: Sechs Länder in Europa, die gar keinen Mindestlohn haben. Ich habe das jetzt genannt, ich muss noch mal nachschauen: Schweden und Dänemark, Österreich, Italien, Finnland. Das sind ja reiche Länder. Was sagen Sie denen?
Schmit: Ja! Ich sage zu denen, ihr habt ein gutes System für die Lohnfindung – in dem Sinne, dass praktisch 80 bis 90 Prozent der Arbeitnehmer über Tarifpolitik abgedeckt sind. Das ist eigentlich die bessere Lohnfindung. Die besteht aber nicht in allen Ländern. In vielen Ländern ist das 50, unter 50 oder sogar weit unter 50. Das ist eigentlich unser Ziel, Tarifpolitik zu stärken, Sozialpartnerschaft zu stärken. Weil das aber ein eher längerfristiges Ziel ist, brauchen wir auch dazu bessere Mindestlöhne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.