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Nimmer endende Selbstverhöre und Selbstbefragungen

Paul Nizon ist heute 82 Jahre alt und ein bekennender Europäer und Wahlpariser. "Warmschreiben" nannte er seine Tagebuchnotizen einst, bis immer deutlicher wurde, dass da ein literarisches Werk parallel zu seinen Romanen und Erzählungen herangereift war. Nun liegt der fünfte Band seiner Journale vor.

Von Heinz-Norbert Jocks | 06.08.2012
    Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass die Journale von Paul Nizon weit mehr sind als nur ein Nebenschauplatz seiner Prosa. Auch der jüngste Band "Urkundenfälschung", der das achte Lebensjahrzehnt dieses Schriftstellers mit all seinen Innenausschlägen und Außenwahrnehmungen so plastisch vor Augen führt, dass wir meinen, es mit ganz unverstellten Einblicken ins Innere seines Bewusstseins zu tun zu haben, liest sich nicht nur wie eine Parallele zu seinen Romanen. Sie zeugen auch von einer unerschrockenen, beinah vorbehaltlosen Neigung dieses am Schreiben Gehenden, sich immer wieder selbst auszufragen. Was aber treibt oder zwingt ihn dazu? Das eigene Sich-Fremd-Fühlen? Oder Schuldgefühle, wie sie der Anti-Held Stolp in dem Roman das "Fell der Forelle" unterschwellig empfindet?

    "Das kann sein. Das Schuldgefühl kommt auch daher, das ich herkommensmäßig kein stubenreiner Schweizer war, wobei heute natürlich und auch damals alle möglichen Leute, vor allem die interessanten Kameraden in der Schule, waren durchmischte Leute. Aber es war natürlich die Kriegszeit, die Judenverfolgung, es war der Rassismus, es war der Patriotismus, das Verlangen nach einem Patriotischen. Und ich habe keine Ahnung gehabt, auch wenn ich wusste, dass mein Vater ein Ausländer war, der naturalisiert worden ist auf völlig normale legale Weise, vielleicht als Student, war mir überhaupt nicht bewusst, dass ich kein vollwertiger Schweizer in der Kriegszeit war. Bis ich - und das wird glaube ich auch irgendwo erwähnt-, bis mir ein mieser kleiner Mitschüler das Wort Papierschweizer zurief. Was soll ein Kind von acht Jahren mit einem solchen Wort anfangen. Er merkt nur, dass da etwas dahinter steckt, was nicht stubenrein ist. Vielleicht hat das Schuldgefühl damit zu tun. Auf der anderen Seite hatte ich ein derartig starkes Selbstbewusstsein. Von früh auf. Und auch ein Kraftgefühl. Ich war ja keine Schattenfigur, ich war ein Kraftmensch als Kleiner. Ich weiß es nicht. Es muss mit dieser Familiengeschichte zu tun haben. Mit dieser Kontaktlosigkeit zwischen Vater und Mutter. Mit diesem Halbtotsein des gelähmten Vaters. Mit dieser Kommunikationsstarre. So etwas, ich weiß es nicht. Es ist ja so, das habe ich mal irgendwo gelesen, dass Kinder, selbst wenn sie gequält und bestraft werden, die Schuld bei sich suchen. Man wird also ein Kind anklagen oder man schläft und prügelt es. Und das Kind hat ja nicht das Gefühl der Ungerechtigkeit, sondern das Gefühl, ihm geschieht recht. Es weiß nur nicht, was der Grund ist, warum es geprügelt wird. Vielleicht ist es bei mir auch so, ich weiß es nicht. Es ist effektiv etwas. Die andere Schuld, was mir nie in dem Sinn gekommen wäre, dass in meiner eigenen Familie etwas anderes Priorität haben sollte als mein Schreiben. Das ist mir damals gar nicht in den Sinn gekommen. Erst in der Rückschau wird mir das bewusst, dass es natürlich eine unglaubliche knallharte Bevorteilung meiner Existenz war im Vergleich zu der Existenz meiner damaligen Frau und Kindern. Ab es gibt Leute, die anfällig sind für Schuldgefühle, und das bin ich."

    Im Grunde handelt es sich auch bei diesem Journal um schonungslose, nimmer endende Selbstverhöre und Selbstbefragungen. Warum bin ich so, wie ich bin? Was hat derjenige, der ich jetzt bin, mit dem zu tun, der ich früher einmal war? Was ist die Last und was der Packen, der dem Sein jede Leichtigkeit nimmt? Was macht mich zum Einzelgänger, für den die Gesellschaft nur einer Person erträglich ist? Warum hasse ich alles Kollektive, jede Ansammlung von Menschen? Das Traubendasein in der Masse? Ist der Herdentrieb nicht der Todfeind des Individuums? Aber auch die Frage nach dem Ausbleiben des Erfolgs trotz Ruhm verfolgt ihn wie eine Manie angesichts der Endlichkeit, die ihn nicht nur wegen seines Alters, sondern auch aufgrund des Todes von Freunden und Vertrauten beschäftigt. Doch nicht nur das selbstreflexive Ich meldet sich da zu Wort. Auch die Welt um ihn herum und die Menschen in seiner nächsten Nähe und Ferne werden aus dem Schatten der Sprachlosigkeit ins schönende Licht der Worte gerückt. Doch:

    "Es ist kein Glanz, der darüber gelegt wird, mit einer Zauberlaterne, überhaupt nicht. Ich glaube schon, dass ich einen Glanz oder ein Licht oder eine Beleuchtung drinnen steckt und die ich heraushole. Und es geht mir nicht um Erhabenheit oder um so etwas, sondern es geht mir einfach um Lebendigkeit. Die Lebendigkeit der Sache mit meiner Sprache festzuhalten, die geradezu solcherlei taugt, weil es schon ein langes Leben lang darin geübt worden ist."

    Dabei zeigt die Art und Weise, wie er dabei mit Worten einprägsame Bilder schafft, damit allem der Glanz zukommt, der ihm innewohnt, seine unbedingte Nähe zur Kunst und zu Künstlern ebenso wie zum Film. Auch darum finden sich in seinem Journal nicht nur wunderbare Deutungen von Kunstwerken eines Ingres oder Lucien Freud. Auch Filme lässt Nizon, der Kinogeher, Revue passieren. Und zwar immer vor dem Hintergrund dessen, was diese über das Leben aussagen. Die Architektur. Die innere Einsamkeit. Die Selbstentfremdung, die ihn mit "Der Ekel" von Jean-Paul Sartre verbindet. Die Politik. Sein ambivalentes Verhältnis zum Mai '68. Reisen wie die nach Rom in Begleitung seines Freundes, dem Schriftsteller Erich Wolfgang Skwara sowie die Reflexionen über sein in den Anfängen stockendes Buch "Der Nagel im Kopf" gehören zu seinem thematischen Spektrum. Eine besondere Rolle spielt dabei das Kapitel der Liebe. Die erotischen Abenteuer, die in einem anderen Licht gesehen werden. Die Bedeutung des Körperlichen. Die Beziehungen zwischen der Erotik und dem Schreiben. Der unüberwindbare Konflikt der Geschlechter.

    "Ich dachte immer, ich bedürfte eines gewissen Verliebtheitsgrades in was immer, beispielsweise in eine Frau, erotischer oder auf andere Weise, um mich lebendig und zum Schreiben herausgefordert zu fühlen. Also, wie ich das nenne, das Motörchen, nicht nur das Motörchen, um mich am Leben zu halten. Ich glaube, in gewissen Themen sehe ich die Gefahr des Missbrauchs. Zum Beispiel die Maria-Geschichte, die eigentlich eine harmlose Geschichte des ehemaligen Romstipendiaten war. Es wäre mir damals nie in den Sinn gekommen, den Missbrauch zu sehen. Nicht den körperlichen, sondern einen seelischen, sozusagen durch Erweckung von falschen Hoffnungen. Wenn ich biografisch zurückdenke, so gab es keine solche Strategie, Hoffnung zu wecken, um das Mädchen zu erobern. Es ist mir nur heute bewusst, in diesem ganzen Eroberungsgeschehen zwischen Mann und Frau, dass bei den Frauen meist ganz andere Vorstellungen der Dauer im Spiel sind als beim Mann. Nein, das wusste ich damals nicht oder ich habe es mir nicht klar gemacht. Vermutlich ist die Einschätzung der Liebe anders geworden, weil ich auf andere Strecken der Liebe und des Verlierens von Liebe zurückblicken kann, aus meinem heutigen Alterspunkt, als damals, wo ich jung und unterwegs war. Ich habe drei Ehen hinter mir, drei Scheidungen. Und sicher eine Menge Begegnungen und weiß heute mehr zu erzählen über die verschiedenen diversen Enden als die berauschenden Anfänge und Herausforderungen. Trotzdem bin ich erstaunt, wenn ich wieder Fahnen lese, dass es immer noch möglich ist, dass man auf der Straße entbrennt vor Berückung und Verlangen, aber das ist ein anderes Thema."

    Die Obsession des ewigen Nachbohrens, die Suche nach Glück, das Hinterfragen in immer neuen Anläufen macht aus ihm einen modernen Sisyphos, für den es offenbar keine absoluten Wahrheiten gibt. Wer nun glaubt, die Journale seien die Ausstülpungen eines Ichs, das sich Authentizität verordnet, insofern es alles so alltagsnah und wirklichkeitstreu wie möglich schildert, spürt, dass er es auch hier, also nicht nur in den Romanen, mit der Imaginationskraft eines Autofiktionärs, besser noch mit einem existentialistischen Selbsterfinder zu tun hat. Wenn er nun immer wieder den "frühen Blick" bemüht, so wirken diese Erinnerungen an die Kindheit wie das Resümee eines inzwischen 82-Jährigen am Ende seines Lebens. Das "Wo ist das Leben", das sein Leben und Werk prägte, wird nun überschattet von dem "Was war das für ein Schreibleben?" Hat es Sinn und Substanz hervorgebracht oder wird es dem Vergessen anheimfallen?

    "Es ist klar, dass diese Thematik einen größeren Raum einnimmt. Die sogenannte Lebensgrenze und Todesnähe nimmt natürlich, das ist selbstverständlich, einen größeren Raum ein als vor zehn oder 20 Jahren. Damit steht im Zusammenhang dieses ganze Bilanzieren: Taugt es etwas? Hat es Überlebensaussichten, das Geschaffene? Wird es bleiben? Wird es vergehen? Das hängt natürlich mit dem Alter und Tod zusammen."

    Buchinfos:
    Paul Nizon: Urkundenfälschung. Journal 2000 - 2010. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. ISBN-10 351842260X/ISBN-13 9783518422601, Gebunden, 375 Seiten, 25,95 Euro