Mittwoch, 24. April 2024

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Ninas Geschichte

Drei Nächte wacht Nina Katrin Sunneva am Bett ihrer sterbenden Mutter Thordis. Sie hat diese Pflicht sehr widerwillig und nur auf Druck ihrer Schwester Marta übernommen. Gefühle und Sentimentalitäten sind im Leben der erfolgreichen Werbefrau nicht vorgesehen. Zeit ist Geld, und hier verbringt sie im wahrsten Sinne tote Zeit. Doch im Verlauf der Nächte weichen ihre intellektuelle Distanz und Coolness einer emotionalen Verunsicherung.

Sabine Barth | 29.01.1999
    "Ich strecke meine Hand nach der Mappe in meiner Tasche aus, berühre mit den Fingern etwas Weiches. Das Schultertuch. Ich hatte es vergessen. Dieses alte Schultertuch, das ich aus irgendeiner Sentimentalität heraus einsteckte, als ich ging. Ein Geschenk von Mutter. Ich hole es heraus, wickle es aus dem alten, bräunlichen Papier. Die Farben schon ausgeblichen, die Fransen verschlissen, einen Geruch verströmend, den ich nicht kenne, frisch aber herb. Das Tuch fühlt sich steif an, obwohl es weich ist. Ich hebe es unbewußt an meine Schultern. Halte aber mitten in der Bewegung inne. Lege es zusammen. Stecke es wieder in die Tasche. Vor mir das Bett."

    "Während die Nacht vergeht", so die wörtliche Übersetzung des isländischen Titels, rückt unausweichlich eine Frage in den Mittelpunkt: "Woher stammst du?" Ninas Wurzeln liegen im Nordwesten Islands, einer der einsamsten und abgelegensten Regionen der Insel. Die Bauern müssen dort das Gras für die Tiere den steilen Hängen abtrotzen. Heftige Stürme und Kälteeinbrüche lassen Seeleute immer wieder stranden und machen das Leben der Einwohner nicht selten zum Überlebenskampf. Die Landflucht aus der unwirtlichen Gegend hält bis heute an. Fríða Á. Sigurðardóttir wurde 1940 im Nordwesten geboren und lebt jetzt in Reykjavík. Sie kennt die Lebensbedingungen, die auch Thema des Romans "Ninas Geschichte" sind. Frauen aus fünf Generationen stehen im Mittelpunkt. Sie alle trugen zu ihrer Zeit das beschriebene Tuch, das sie an ihre geographische und familiäre Herkunft fesselte. Jede der Frauen versuchte auf ihre Weise den Ausbruch aus der Tradition, doch alle kamen wieder zurück. Selbst Nina kann sich nicht von den Banden an den Ort ihrer Kindheit lösen. Während ihrer Nachtwachen erinnert sie sich an die Geschichten über ihre Ahninnen, deren Namen sie trägt und von denen ihre Tante Maria mit Begeisterung erzählte. Ninas bodenständige Mutter Thordis hielt die Erzählungen der Schwester nur für einen romantischen Unterhaltungsroman. Sie hatte ihr Leben früh nach einem strengen Moralkodex ausgerichtet, Pflichterfüllung und Hilfe für Bedürftige waren ihre Lebensmaxime. Ganz anders Nina, die ohne Rücksicht auf andere lebte und liebte. Beziehungen waren und sind für sie meist Mittel zum Zweck, wie zu dem Maler Arnar, den sie wegen des erfolgreichen Rechtsanwalts Gudjon verließ. Erst hier am Totenbett erinnert sie sich wieder und schreibt die Gedanken auf. Zunächst, um die Zeit totzuschlagen.

    "Doch ich weiß auch, daß dies nur die halbe Wahrheit ist. Die Worte zaubern, wollen mich in ihre Gewalt bringen. Verwandeln sich in Bilder, Ereignisse, Menschen, einen Schlangenknoten aus Worten, der sich lockend windet, drohend, überall um mich herum. Und ich fühle, wie ich versuche, ihnen nach allen Richtungen auszuweichen, so wie meine Blicke es vermeiden, auf dieses Bett zu schauen, dem ich mich nicht nähern kann. Dem ich mich nicht nähern will. Weiß irgendwo tief in meinem Innern, daß diese beiden Dinge verwandt sind, zusammenhängen, immer. Daß geschriebene Worte bedeutungslos sind, falsch, wenn nicht diese Kraft sie zusammenfügt, den Saft aus ihnen herauspreßt, bis es zur Verschmelzung kommt, dieser unerklärlichen Verschmelzung, die alles verwandelt. Ein Seiltanz. Ohne Netz. Der Abgrund darunter."

    Als junge Frau hatte Nina schon einmal geschrieben, aber es jäh beendet, als sie feststellte, daß ihre Schwester Marta die Texte gelesen hatte. Marta, ebenso arbeitsam und aufopferungsbereit wie die Mutter, bezeichnete die Aufzeichnungen als Geschreibsel. Fríða Á. Sigurðardóttir reflektiert in ihrem Roman nicht nur Frauengeschichte, sondern setzt sich mit der Funktion und dem Sinn von Literatur auseinander. Während die Realisten wie Thordis und Marta in literarischen Erzählungen nur Lügen sehen, machen die Geschichtenerzähler wie Nina und Maria daraus Realität. Die Erinnerungen und Geschichten in dem Roman sind Puzzleteile, die der Leser zu Biographien zusammensetzen muß. Keine der Frauen bleibt deshalb in einer Eindimensionalität stecken. So zeigen sich bei der als oberflächlich und gefühlskalt charakterisierten Nina im Verlauf der Nächte deutliche Risse in der glatten Außenhaut. Hier in der Stille des Raumes fallen ihr die Kindheitsverluste und Ängste wieder ein, und sie kann sich ihre Verletzungen und Gefühle eingestehen.

    Friða Á. Sigurðardóttir versteht es, den Leser in den Sog der Erinnerungen und Gedanken hineinzuziehen. Sie wechselt die Zeiten, die von den Ereignissen im 19. Jahrhundert über Ninas persönliche Erinnerungen bis in die aktuelle Gegenwart reichen. Aus der Ich-Erzählerin wird eine Chronistin, die auch auf Ninas Leben mit der Distanz der dritten Erzählperson schaut. Sigurðardóttir schafft mit dieser Form eine große Dichte, die ihre Entsprechung im Bild des Tuches hat. Zugleich webt sie auch die gesellschaftlichen Veränderungen Islands ein, den Wandel von der Bauernkultur zur Stadtgesellschaft. Sicher ist es die Vielschichtigkeit des 1990 in Island erschienen Romans, der Fríða Á. Sigurðardóttir den künstlerischen Durchbruch brachte. 1992 erhielt sie dafür den Literaturpreis des Nordischen Rates. Formal und stilistisch vereint der Roman die postmoderne literarische Erzählstruktur mit der Tradition der großen Sagas. Vor allem die Frauenfiguren knüpfen unmittelbar daran an. Es sind Frauen, die letztlich ihrem Schicksal nicht entgehen können, und damit auch das Schicksal der anderen mitbestimmen. Nina, die Stadtfrau, glaubte sich frei von diesen Bindungen, aber am Ende der dritten Nacht fühlt sie, daß sie nur in der Einbindung in Tradition und Gefühle leben kann.