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Nino Haratischwili
Eine Erzählung gegen das Vergessen

Mit ihrem Romandebüt "Juja" wurde Nino Haratischwili schon 2011 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ihr zweiter Roman "Mein sanfter Zwilling" gewann den Preis der Hotlist der unabhängigen Verlage. Und jetzt hat sie einen Jahrhundertroman vorgelegt: "Das achte Leben (Für Brilka)" – ein Solitär in der deutschsprachigen Literatur ihrer Generation.

Von Insa Wilke | 15.12.2014
    Eine der berühmtesten Weberinnen der Literatur ist Philomela. Ovid erzählt ihre Geschichte in seinen "Metamorphosen". Philomela wird von ihrem Schwager nicht nur verschleppt und vergewaltigt, sondern auch noch ihrer Zunge, also ihrer Sprache beraubt. Aber sie wehrt sich: Indem sie ihre Geschichte in einen Teppich webt und ihn ihrer Schwester schickt, was neues Blutvergießen verursacht.
    Um eine solche Brief-Sendung handelt es sich in gewisser Weise auch bei Nino Haratischwilis Familien-Roman "Das achte Leben", den die Erzählerin Niza sorgsam Faden für Faden für ihre Nichte Brilka knüpft. Ihr Roman-Teppich erzählt vom Sprachverlust und der Erniedrigung der georgischen Familie Jaschi. Der Unterschied: Nizas Erzählen soll Erlösung bringen, nicht Gerechtigkeit. Denn für die ist es zu spät. Niza schreibt:
    Ich verdanke diese Zeilen einem Jahrhundert, das alle betrogen und hintergangen hat, alle die, die hofften. Ich verdanke diese Zeilen einem lang andauernden Verrat, der sich wie ein Fluch über meine Familie gelegt hat.
    Es ist das "rote" Jahrhundert, in dessen Neigungswinkel sich das Schicksal der Jaschis ereignet. Nino Haratischwili, und das ist eine der Besonderheiten ihres Romans, erzählt das 20. Jahrhundert nämlich vom Osten her, aus georgischer Perspektive. Die Autorin erklärt:
    "Nicht nur im Westen, auch im Osten ist die Geschichte der Sowjetunion in der Bevölkerung überhaupt nicht aufgearbeitet. Viele Vorgänge, die jetzt in Georgien und Russland stattfinden, habe ich nicht verstanden. Darum habe ich angefangen, mich mit der Geschichte zu befassen, ich wollte den Ursprung finden. Und so bin ich immer etwas weiter in die Zeit zurückgegangen, bis ich bei der Oktoberrevolution landete. Da fragte ich mich: Tu ich's mir an? Ich hab's mir angetan. Das Fatale an der westlichen Interpretation der Geschichte ist, anzunehmen, dass es eine Zäsur gab 1989. Das stimmt nicht, die Gegenwart ist die Fortsetzung der Geschichte seit der Oktoberrevolution."
    Die mit ausführlicher Recherche unterfütterte, aber erfundene Chronik der Jaschis beginnt mit der schönen, klugen und eigenwilligen Stasia, die im Jahr 1900 geboren wird, als Tochter eines wohlhabenden Schokoladenfabrikanten. Mit ihr setzt die Abwärtsspirale ein, in deren Sog die Männer der Familie in eine düstere Passivität treiben und die Frauen all ihrer Träume aufgeben. Sie alle werden nicht nur Opfer des Stalinismus, sondern auch des eigenen Schweigens, ihrer Verdrängungsfähigkeiten.
    Ein Roman über alles
    Das Gerüst der Handlung bilden die historischen Ereignisse in und um Georgien und die Sowjetunion: Die Revolution und der Sturz des Zaren, der Aufstieg Stalins und der sogenannte Große Terror der 30er-Jahre, der Zweite Weltkrieg und das innenpolitische Auf und Ab der Repressionen, die Perestroika und der zunehmende Nationalismus, der in Georgien in den 90er-Jahren in einem neuen Bürgerkrieg und wirtschaftlichem Elend mündet. Haratischwili rahmt diese Ereignisse klug durch Nachrichten aus aller Welt und aus allen Ressorts und setzt Kontrapunkte zur Handlung – durch Zitate aus Gedichten von Anna Achmatowa oder Joseph Brodsky sowie Sprüche von Propagandaplakaten, die sie wie Kapitelüberschriften benutzt. "Wir danken unserem Führer für die glückliche Kindheit" überschreibt dann das Kapitel, in dem Stasias Tochter Kitty vom Geheimdienst gefoltert wird. Solche Verfahren steigern die Spannung. Sie raffen und dehnen zugleich Zeit und Raum. Nichts weniger als einen Roman über alles hat Haratischwili geschrieben. Ein Kapitel über das Jahr 1935 beginnt so:
    Ein aufregendes Jahr hatte begonnen! Ein Jahr, in dem die Luftwaffe gegründet, "Porgy and Bess" uraufgeführt und "Summertime" gesungen, Jazz im Deutschen Reich verboten wurde, ein Jahr, in dem die Jukebox-Kultur begann, in dem Billie Holiday in einer Jam Session "What a little Moonlight can do" zum Besten gab, ein Jahr, in dem der sowjetische Führer an einer neuen Verfassung schrieb, die im darauf folgenden Jahr in Kraft treten und Millionen das Leben kosten sollte.
    Ein Jahr, in dem ein gewisser Herr Mairanowski (übrigens auch in unserer sonnigen georgischen Heimat geboren) sich unter die Fittiche des Kleinen Großen Mannes begab, schließlich das Geheimlabor 21 gründete.) [...] Mairanowskis Hauptverdienst war die Erfindung des Giftstuhls, der bis heute Verwendung findet, aber das nur nebenbei.
    Solche kleinen Kommentare wie dieser letzte Halbsatz stellen Bezüge zur Gegenwart her und Geschichtsbilder infrage. Die Erzählerin Niza, Stasias Enkelin, geboren 1971 in Tbilissi und inzwischen in Berlin lebend, erzählt ja auch aus der Gegenwart, in heutiger Sprache und mit dem heutigen Wissen:
    "Ich wollte unbedingt das allwissende Autoren-Ich vermeiden. Ein Thema in diesem Buch ist für mich auch das Erzählen. Wie erzählt man eine Geschichte, wie bekomme ich die Gleichzeitigkeit und Ungewissheit in Worte gefasst? Da hat mir geholfen, dass Niza sagen konnte: 'Sie trafen sich unter einer Eiche und küssten sich – keine Ahnung, ob es eine Eiche war, aber so stelle ich es mir am schönsten vor.' Dadurch bricht die Geschichte. Die Fakten verdrehe ich nicht, aber die Ausmalung der Geschichten wurde mir so ermöglicht und dass ich als Autorin verschwinden kann."
    Keine seitenlangen Beschreibungen
    Haratischwili überlässt ihren Figuren das Feld. Man merkt ihr die Theaterautorin an, die nicht viel Wert auf die Kulisse legt. Wie es in Moskau oder Tbilissi in den 30er- oder 70er-Jahren ausgesehen hat, das erfährt man in diesem Roman nicht. Haratischwili erzählt, schon bei Tolstoi hätten sie die seitenlangen Beschreibungen einer Tischdecke wahnsinnig gemacht. Sie habe doch wissen wollen, wer um den Tisch herumsitzt:
    "Ich bin noch am Anfang. Ich habe aber Vorlieben. Ich mag es, wenn der Autor seinen Figuren die Möglichkeit gibt, in ihrer Sprache zu sprechen. Ich mag das Feuerwerk der Fantasie, durch das neue Welten entstehen. Und ich stehe auch zu einem gewissen Pathos. Das wird in Deutschland ja immer kritisch beäugt. Der Grat zwischen Pathos und Kitsch ist schmal, aber Pathos bedeutet auch Leidenschaft."
    Um ihre Leser mitzureißen, scheut Haratischwili sich nicht vor einer kräftigen, zuweilen durchschaubaren Dramaturgie. Sie arbeitet mit Wiederholungen und Gegensätzen. Die Beziehung der Schwestern Stasia und Christine wiederholt sich in Niza und Daria, das unheilvolle Verhältnis von Kitty und Andro erst in Kittys Nichte und Andros Sohn, dann in der Liebesgeschichte von Niza und Andros Enkel. Familienfolgen werden als Verwandlungsprozesse erzählt, bleiben am Ende aber statisch.
    "Ich weiß, dass das nervt. Das ist der Sinn der Sache. Ich habe diese Geschichte so empfunden: Nicht nur in der Politik und der Geschichte wiederholen sich die Dinge, sondern auch im Privaten, in den Familien. Hätte ich das der literarischen Originalität wegen nicht berücksichtigen sollen? Für mich sind die Figuren außerdem alle individuell. Aber es gibt bestimmte Muster: Wer rebelliert gegen was, wer bleibt Zuhause sitzen, wer gibt auf. Diese Muster sind sehr bewusst wiederholt. Die einen scheitern, die anderen nicht. Naja, eigentlich scheitern alle."
    Es gibt keinen doppelten Boden
    Die Stärke des Romans ist zugleich seine Schwäche: Alles liegt offen da, einen doppelten Boden gibt es nicht. "Das achte Leben" ist eine Erzählung über die unabgeschlossenen Gestalten in uns, eine Erzählung gegen das Vergessen, aber keine Parabel, deren Erkenntniswert man sich erst noch erschließen müsste. Manchmal wird es einem sogar etwas unbehaglich. Zum Beispiel, wenn Nino Haratischwili Kitty, dem Stalin-Opfer im Exil, die Holocaust-Überlebende Fred Lieblich gegenüberstellt. Das war nötig, weil sie ein im Leiden ebenbürtiges Gegenüber für Kitty brauchte, meint die Autorin. Etwas burschikos klingt das. Haratischwili beharrt aber darauf, dass ihre Geschichten zwar erfunden sind, aber eigentlich habe die Realität sie geschrieben. Genauso drastisch, wie sie jetzt im Buch stehen.
    "Das achte Leben" ist also kein vorsichtiger, skeptischer Roman. Er ist nicht dem Schweigen verwandt, wie es so häufig gilt für Literatur, die sich mit den Schrecken des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt. Es ist zwar viel vom Schweigen die Rede und Niza sehnt sich danach, an die Kraft der Worte zu glauben. Tatsächlich aber liegt diesem Buch nicht nur der Glaube an die Kraft des Erzählens zugrunde, sondern auch die Lust daran. Genau das macht ihn bei allen möglichen Einwänden zu einem Solitär in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
    Nino Haratischwili: "Das achte Leben (Für Brilka)"
    Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2014, 1280 Seiten, 34,00 Euro.