Freitag, 29. März 2024

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Noch zu entdecken: der niederländische Erzähler F.B. Hotz

Frits Bernard Hotz hatte bereits eine Karriere als Jazz-Posaunist hinter sich, als er mit 52 Jahren seine erste Erzählung veröffentlichte, 1975. Dem Erzählen in kurzer Form ist er stets treu geblieben, und so entstanden vier Bände stets sehr prägnanter, zum Teil lakonischer Geschichten, welche sich in die autobiographischen zum einen und nicht-autobiographischen zum anderen unterteilen lassen. Maarten ’t Hart und die Übersetzerin Sybille Mulot haben genau dies getan: So stellte ’t Hart für den niederländischen Verlag von Hotz eine Auswahl seiner nicht- autobiographischen Erzählungen zusammen, während Mulot für die deutsche Erstveröffentlichung des Musikers und Autors seine Jugenderinnerungen ausgewählt hat. Im Nachwort der niederländischen Ausgabe erläutert Maarten ’t Hart, dass dem Leser allein mit den Erinnerungen die besten Geschichten leider entgehen würden. Im Vergleich der beiden Sammlungen wird jedoch deutlich: Der nun in Deutschland erschienene Erinnerungsband über Kindheit und Jugend im Holland der Zwanziger bis Vierziger Jahre ist ein hervorragender Einstieg in die hotzsche Erzählwelt. In seinem ersten und einzigen Interview für den niederländischen Rundfunk meinte Frits Bernard Hotz über sein Verhältnis zu Musik und Literatur:

Von Volkmar Mühleis | 31.05.2004
    Wenn ich im Ensemble ein Solo spielen musste, dann habe ich versucht es stets so zu improvisieren, als wenn man damit eine Geschichte erzählen würde – dass es eine bestimmte, wieder erkennbare, nuancierte Struktur erhält. Dieses Gefühl für eine musikalische Struktur hat mir sicherlich dabei geholfen, mein eigenes Schreiben besser beurteilen zu können – ob die Sätze rhythmisch im Fluss waren oder getrennt werden mussten, oder nur eines Semikolons bedurften, damit der Leser Luft holen kann, eine Pause entsteht, bevor es weitergeht. In diesem Sinne bedingen sich Musik und Literatur für mich gegenseitig.

    Die Chaussee heißt der Band mit Erinnerungen, welche vor allem durch einen Umstand charakterisiert werden: Wie jeder für sich das Beste versucht zu erreichen und dem anderen damit im Wege steht. Beziehungen erscheinen wie Ausflüchte, ein tatsächliches Miteinander findet kaum statt. In dieses Klima wächst der Protagonist von Hotz’ Erzählungen hinein und trägt es gleichermaßen mit:

    Als Vater abends häufiger spät nach Hause kam und seine stumme schlechte Laune schlimmer wurde, kaufte Mutter eines Tages ein Stehaufmännchen. Es war ein Zelluloidpüppchen ohne Beine, ein sahnerosa Bübchen, dessen Pumphosen so Furcht erregend gerundet waren, dass ich an einen Hermaphroditen denken musste: ein Kindergartenkind mit Frauenpopo. Diese runde, mit einem Stückchen Blei beschwerte untere Hälfte sorgte dafür, dass sich das Püppchen aus jeder Lage von selbst wieder aufrichtete, in die man es niederdrückte oder niederschlug. Mutter führte es vor. >Das bin ich<, sagte sie mit einer tiefen Stimme, >ihr könnt mich prügeln (bitteres Lächeln), aber ich stehe immer wieder auf.< Wir waren eher irritiert als beeindruckt. Und als Vater unerwartet doch noch zum Essen kam und das kleine rosa Ungeheuer auf dem Tischtuch vor sich hinnicken sah, brachen wir mit ihm gemeinsam in respektloses Gelächter aus.

    Die Eltern gehen schließlich den Schritt, den die Großeltern vermieden haben: Sie lassen sich scheiden. Hotz erzählt davon in einer ähnlich teilnahmslos-ratlosen Nüchternheit, wie wenn Fernando Pessoa in der Gestalt des Buchhalters Bernardo Soares feststellt: Seine Eltern glaubten noch an Gott und wussten nicht warum. Er glaube nicht mehr an Gott, und wisse auch nicht warum. Bei Hotz lassen sich die Eltern nicht deshalb scheiden, weil sie es besser wüssten als ihre Eltern – sie geben es einfach auf. Der junge Ich-Erzähler findet seinen Halt schließlich in der Musik. Der Schriftsteller Hotz über seine Anfänge als Musiker:

    Was mir selbst am meisten Spaß gemacht hat, war eine Gruppe aus Amsterdam, in der wir versuchten, den sogenannten New York-Stil aus den späten Zwanziger Jahren neu zu beleben, das heißt, notierte, arrangierte Stücke der damaligen Avantgarde ins Programm zu nehmen und weiterzuentwickeln. Doch weil man davon allein nicht leben kann, gab es natürlich auch die üblichen Engagements in Dixieland-Orchestern. Leider werde ich eher auf die noch angesprochen, weil die Musik sehr populär war. Aber wichtig war mir nur der Jazz.

    Für den Band Die Chaussee hat Maarten ’t Hart gleichermaßen ein Nachwort verfasst, wie für seine eigene Zusammenstellung von Hotz-Klassikern. Beide Autoren waren befreundet, nachdem ’t Hart seinen älteren Kollegen für eine Literaturzeitschrift interviewt hatte. Im Nachwort der deutschen Übersetzungen schreibt er, dass dessen Arbeiten sich grundsätzlich dadurch auszeichneten, wie noch die schlimmsten Umstände oder Ereignisse 'ganz nebenbei’ erzählt würden. Beispiele dazu findet man zahlreiche: So beherrscht etwa die Besatzung der Deutschen während des Zweiten Weltkrieges das Geschehen der letzten Erzählung, doch an keiner Stelle rückt sie selbst in den Vordergrund.

    Statt von der letzten Erzählung, neigt man übrigens fast dazu, vom letzten Kapitel des Buches zu sprechen. Denn es bewahrheitet sich, was die Verlagsankündigung verspricht: Als ein Roman in Erzählungen lasse sich der Band bezeichnen. Nur einmal überschneiden sich die Handlungsverläufe, ansonsten entsteht durch die Chronologie der Erzählungen tatsächlich eine einheitliche Geschichte. Als Roman hat der im Dezember 2000 verstorbene Schriftsteller nur eines seiner Bücher selbst verfasst – neben den Erzählungen sind ansonsten eine Reihe von Reflexionen und Betrachtungen erschienen. Dass die besten Geschichten von Frits Bernard Hotz in dieser ersten deutschen Ausgabe noch nicht enthalten seien, damit hat Maarten ’t Hart recht: Die Erzählung Der Gladiator etwa lässt noch auf sich warten. Das Niveau dieses Autors lebt allerdings keineswegs von einigen wenigen Höhepunkten, vielmehr weiß er auf einer ganzen Bandbreite von Tonlagen zu überzeugen, den spektakulären ebenso wie den unscheinbareren. Der Erzählband Die Chaussee lebt von dieser Bandbreite.

    Frits Bernard Hotz
    Die Chaussee
    Roman in Erzählungen Ausgewählt und aus dem Niederländischen übersetzt von Sibylle Mulot
    Mit einem Nachwort von Maarten ’t Hart
    288 Seiten. Gebunden. 2 Fotos 21.- Euro Arche Verlag, Zürich-Hamburg

    Frits Bernard Hotz (1922-2000) ist in den Niederlanden dem breiten Publikum eher unbekannt geblieben, während er von literarisch Interessierten seit dem Erscheinen seiner ersten Erzählungen, 1976, sehr geschätzt wird. 1998 wurde er für sein (schmales) Gesamtwerk mit einem der höchsten Literaturpreise des Landes ausgezeichnet, dem P.C. Hooft-Preis. Der Bekanntheitsgrad eines Autors macht sich dabei in Holland nicht unbedingt an der Romanform fest, dass ein ausgebreiteter Text erwartet würde – Remco Campert, in den Niederlanden ein Star, in Deutschland kaum bekannt, hat zum Beispiel ebenfalls nur Erzählungen und kurze Prosastücke geschrieben (im Gegensatz zu Hotz ist er wesentlich zugänglicher in seinen Betrachtungsweisen).