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Norbert Scheuer: "Winterbienen"
Von Bienen und Bombern

Norbert Scheuer schreibt seine literarische Eifel-Chronik weiter fort. In "Winterbienen" erzählt er von einem epilepsiekranken Imker aus dem Städtchen Kall, der in der Endphase des 3. Reichs Juden über die belgische Grenze schmuggelt. Als Flüchtlingsversteck dienen ihm Bienenstöcke.

Von Christoph Schröder | 24.07.2019
Buchcover: Norbert Scheuer: „Winterbienen“
Scheuer erzählt davon, wie Tiefflieger 1944/45 über die Eifel hinwegdonnerten - mit Zielrichtung Bonn und Köln (Foto: picture alliance/dpa/Paul Zinken, Buchcover: C.H. Beck Verlag)
Wieder ist es das Café des Supermarktes in Kall, das den Ausgangspunkt eines Romans von Norbert Scheuer bildet. In Scheuers vorangegangenem Roman "Am Grund des Universums" waren es die Rentner des Dorfes, die so genannten Grauköpfe, die sich dort täglich trafen – und das Geschehen wie ein antiker Chor begleiteten. Nun also, so schreibt Scheuer selbst im Nachwort von "Winterbienen", sei ihm dort, im Supermarkt-Café von Kall, ein Stapel mit Dokumenten übergeben worden. Alte, verblichene, schon etwas brüchig gewordene Dokumente, die angeblich beim Aufräumen einer Scheune ans Tageslicht gekommen seien. Es handele sich dabei, so erzählt einer der Rentner, um die Aufzeichnungen eines Mannes, der während des Zweiten Weltkrieges im Dorf Juden gerettet habe. Da könne er, der Herr Schriftsteller, doch endlich auch einmal etwas Gutes über Kall schreiben, wird ihm noch gesagt. Der Autor ist zunächst skeptisch. Aber er nimmt die brüchigen Papiere mit nach Hause, um sie zu prüfen:
Mit dem Fund alter Papiere aus der NS-Zeit fängt es an
"Ich setzte mich aufs Sofa, öffnete die Tasche, und ein geheimnisvoller Duft von Wachs und Honig, Blütenblättern und Kiefernnadeln strömte mir entgegen. Zwischen den eng beschriebenen Blättern lagen Flügel und Beine von Bienen und mir unbekannten Insekten. Wie verzaubert machte ich mich an die Arbeit."
Ob es die Szene im Supermarktcafé tatsächlich gegeben hat, oder ob es sich nur um die fiktive Herstellung einer authentischen Erzählsituation handelt, spielt keine Rolle. Denn Norbert Scheuer ist von einem rein dokumentarischen Schreiben ohnehin Lichtjahre entfernt. Die äußere Form von "Winterbienen" folgt zwar der Struktur fragmentarisch überlieferter Aufzeichnungen, doch daraus entwickelt Scheuer einen in sich geschlossenen Kosmos voller korrespondierender Motive.
Wieder ein Held aus Scheuers Roman-Familie Arimond
Der Mann, der hier sein Leben in den Monaten zwischen Januar 1944 und Mai 1945 in dem Eifeldorf Kall festhält, heißt Egidius Arimond. Ein Mitglied der verzweigten Familie Arimond, die auch schon in den beiden vorangegangenen Romanen Scheuers eine gewichtige Rolle spielte. Egidius Arimond, das wird schnell klar, ist ein Außenseiter. Zum einen allein schon deshalb, weil er nicht als deutscher Soldat eingezogen wurde und deswegen von den anderen Dorfbewohnern misstrauisch beäugt wird. Arimond wurde als Epileptiker zwangssterilisiert. Sein Leben gilt den herrschenden Nazis als unwert; und dem Tod ist er nur entgangen, weil sein älterer Bruder als Flieger im Dritten Reich Heldenstatus genießt – und die schützende Hand über Egidius hält.
Egidius hat die Welt gesehen, hat im Ausland studiert und ist nach dem Tod der Mutter zurück in die Eifel gekommen, um als Lateinlehrer zu arbeiten. Von dieser Tätigkeit ist er mittlerweile aufgrund seiner Erkrankung freigestellt worden. Seitdem kümmert er sich um seine Lektüren und um die Bienenzucht. Und: Egidius Arimond schmuggelt jüdische Flüchtlinge zur belgischen Grenze. Als Transportmittel dienen ihm dafür die großen Bienenkästen, in denen sich Menschen auf ungewöhnliche Weise verstecken lassen:
Versteckt unter Bienen schmuggelt er Juden über die Grenze
"Pro Flüchtling benötige ich in der Regel vier Lockenwickler, die ich jeweils mit einer Königin bestücke. Ich befestige je einen an Schulter und Brust und einen an den Jackenärmeln; das genügt, um den ganzen Körper mit einer Traube von Bienen bedecken zu lassen, wie ein Kleid aus braungoldenen, summenden Perlen."
Sollte einmal einer der Kontrollposten auf die Idee kommen, einen der Kästen öffnen zu lassen, wäre der Flüchtling unter den Bienen sicher getarnt. Norbert Scheuer hat seinem Roman ein umfangreiches Literaturverzeichnis angehängt. Er hat sich in die Wissenschaft der Bienenzucht eingelesen. Bienen, so lernen wir, sind friedliebende Tiere. Sie greifen nur bei Bedrohung an.
Dieses Bild der Bienen, die die schutzsuchenden Menschen wie ein Mantel umkleiden, ist nur ein Beispiel für die assoziative Qualität von Norbert Scheuers bemerkenswertem Roman. Das Motiv des Fliegens ist in all seiner Ambivalenz auf vielfache Weise in den Text eingewoben. Zum einen sind es die in ihrer Grundanlage friedlichen Bienen, die um das Haus des Menschenretters Egidius und um seine Stöcke herumschwirren, während in der Luft darüber die Bomber der Alliierten zunächst nur als ein fernes Rauschen vernehmbar sind, mit fortschreitender Zeit aber auch als reale Bedrohung am Himmel kreisen. Darüber hinaus stellt Scheuer dem von den Nationalsozialisten pervertierten Begriff des gesunden Volkskörpers die natürliche, sanftmütige Ordnung des Bienenvolks gegenüber.
Zwei Kollektive: Bienenstaat versus Nazi-Diktatur
Egidius Arimond selbst bleibt als Charakter uneindeutig. Zwar rettet er Menschen vor dem sicheren Tod, doch er selbst gibt als Grund dafür lediglich an, dass er das Geld dringend benötigen würde, um seine Epilepsie-Medikamente zu bezahlen. Sein Widerstand gegen den Nazi-Terror ist also eher pragmatisch, nicht explizit moralisch, sondern gründet in einem als selbstverständlich angenommenen Humanismus. Die unter Hitler verbotenen Bücher aus seiner privaten Bibliothek hat Arimond quasi als U-Boote in den Regalen der örtlichen Bücherei versteckt. Die Bücherei dient ihm aber auch als toter Briefkasten, um die Flüchtlingstransporte zu organisieren. Wer genau hinter den Judentransporten steckt, weiß Arimond nicht. Die Bienen und der Krieg. Sie führen in diesem Roman ein auf literarisch überzeugende Weise inszeniertes, aber auch irritierendes Nebeneinander:
"Immer mehr Arbeiterinnen werden geboren, die nur die Aufgabe haben, ihr Volk zu umsorgen und dann zu sterben. Bei den gut entwickelten Völkern setze ich Stockwerke mit Waben ein, damit sie sich weiter ausdehnen können. Seit einiger Zeit lassen die Flaksoldaten Fesselballons aufsteigen; in den herabhängenden Stahlseilen sollen sich die Tiefflieger verheddern."
Passagen dieser Art gibt es einige. Sie verbinden auf den ersten Blick unvereinbare Beobachtungen, sind aber über das Bewusstsein des Erzählers in den großen Kontext des täglichen Kampfes um das Überleben gestellt. Gleichzeitig aber, und das ist eine große Kunst, gelingt es Norbert Scheuer, die Fachsprache der Bienenzucht wie selbstverständlich in poetisches Material zu verwandeln.

"Winterbienen" hat von Anfang an einen vermeintlich klaren, nüchternen, in Wahrheit aber unheilvoll aufgeladenen Tonfall. Je näher der Zusammenbruch des Dritten Reichs rückt, desto knapper werden auch Egidius Arimonds Medikamente. Damit wiederum sind eine Trübung seines Bewusstseins und mithin eine Unzuverlässigkeit seines Erzählens verbunden:

"Ohne Medikamente werden sich die Anfälle häufen; und je heftiger sie werden und je länger ich in dieser anderen Welt sein muss, umso mehr Gehirnzellen sterben ab. Da ich meine Erinnerungen verlieren werde, müsste ich sorgfältig jede Kleinigkeit aufschreiben, jeden einzelnen Moment festhalten, doch dafür reichen meine Kräfte nicht mehr aus."
Der epileptische Erzähler wird immer unzuverlässiger
Die neuronalen Auflösungserscheinungen des Erzählers Egidius Arimond korrespondieren in Scheuers Roman mit den Auflösungserscheinungen der äußeren Ordnung. Das Kriegsende erscheint in "Winterbienen" als ein von epileptischen Anfällen durchzucktes Blitzlichtgewitter, in dem dramatische Ereignisse jeweils nur kurz aufscheinen, um dann wieder in der Grauzone zwischen Realität und Vorstellung zu verschwinden.
Norbert Scheuer ist ein versierter Autor, der um das Risiko weiß, das es bedeutet, aus extrem subjektiver Perspektive vom Untergang des Dritten Reichs zu erzählen. Mit Eleganz und Feingefühl vermeidet er es, die Primärreize des Schreckens abzuschöpfen. "Winterbienen" ist gerade deshalb eine großartige Lektüre, weil der Roman nichts von den Schrecken jener Monate verschweigt, aber der strukturellen Gewalt, in die die Menschen eingeschlossen waren, individuellen Widerstand gegenüberstellt, ohne auf Helden-Stereotype zurückzugreifen. Der kollektiven Brutalität des Nationalsozialismus setzt Scheuer hier als utopisches Modell die Sanftmut, die Intelligenz und die Schönheit des Bienenstaats entgegen.
Norbert Scheuer: "Winterbienen"
Mit Illustrationen von Erasmus Scheuer
C.H. Beck Verlag, München. 320 Seiten, 22 Euro