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Nordfrankreich
Ein fortwährender Kampf gegen die Schlepperbanden

Täglich versuchen Flüchtlinge von Nordfrankreich nach Großbritannien zu gelangen. In einem Camp knapp 50 Kilometer östlich der Hafenstadt hausen hunderte Flüchtlinge am Stadtrand von Téteghem. Der Bürgermeister ist weitgehend hilflos angesichts der kriminellen Banden und Schlepper, die vor seinen Augen ihre Geschäfte abwickeln.

Von Änne Seidel | 18.09.2015
    Ein Migrant schaut durch einen Zaun an den befestigten Anlagen am Eurotunnel nahe Calais
    Ein Migrant schaut durch einen Zaun an den befestigten Anlagen am Eurotunnel nahe Calais (dpa / picture alliance / ©smail Azri/Wostok Press)
    Wenn Bürgermeister Franck Dhersin in dem Camp am Stadtrand auftaucht, dauert es keine Minute, und er ist umringt von Flüchtlingen. Das Camp liegt am Ufer eines Sees: ein paar Container und viele Zelte zwischen Pfützen, Schlamm und Müll. Die Flüchtlinge fragen den Bürgermeister nach Feuerholz, oder bitten ihn, zumindest die Familien in Häusern in der Stadt unterzubringen.
    Lager existiert schon Jahre lang
    Ein Mann sticht aus der Menge heraus: Er ist kräftiger als die anderen, und deutlich größer. Er schreit rum, erteilt den Flüchtlingen Anweisungen. Offenbar möchte er nicht, dass sie mit dem Bürgermeister reden. Der versucht, die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. "Ich bin hier der Boss", ruft Bürgermeister Dhersin dem Mann zu. Der Schreihals verzieht sich, zumindest vorübergehend. Dhersin ist überzeugt: Der Mann gehöre zu den Schleppern. "Sie kontrollieren das Camp und terrorisieren die Flüchtlinge", sagt er.
    "Es wird immer schlimmer. Hier an den Containern, in denen die Familien schlafen, sehen Sie da die Einschusslöcher! Manche der Schlepper sind bewaffnet, nachts gibt es hier Schießereien, sie jagen den Flüchtlingen fürchterliche Angst ein."
    Das Lager am Stadtrand von Téteghem existiert schon seit Jahren. Die Lage ist günstig für die Schleuser: direkt an der Autobahn, auf halbem Weg zwischen Calais und dem belgischen Seebrügge - beides Hafenstädte, in denen Fähren nach England ablegen. Wie lange sie hier ausharren müssen, bevor die Schlepper sie weiter nach England bringen, wissen die Flüchtlinge nicht. "Du musst warten, bis du an der Reihe bist. Jede Nacht nehmen sie nur ein paar Leute mit. Wir wissen nicht, wer sie sind. Sie tragen Masken. Wir dürfen sie nichts fragen, wir folgen ihnen einfach", erzählt einer der Flüchtlinge.
    Wirklich offen spricht nur, wer nicht mehr im Camp lebt. Wie Payman, eine junge Mutter aus dem Irak. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern wohnt sie seit Kurzem in einem Haus im Zentrum von Téteghem. Der Bürgermeister hat sie dort einquartiert, weil er Mitleid mit den Kindern hatte und weil sich die Familie entschieden hat, in Frankreich zu bleiben.
    Die Schlepper im Camp konkurrieren mit Preisrabatten um die Flüchtlinge, erzählt Payman, nachts gebe es deshalb oft Streit und Schießereien.
    Eigentlich wollte auch sie mit ihrer Familie nach England. Aber dann hätten die Schlepper ihrem jüngsten Sohn ein Medikament verabreicht, damit er während der Fahrt über die Grenze still ist. Da habe sie Angst bekommen und es sich anders überlegt.
    Bürgermeister zeigt Präsenz
    Bürgermeister Dhersin möchte verhindern, dass das Camp in seiner Stadt zu einem rechtsfreien Raum wird. Jeden Tag kommt er her, um Präsenz zu zeigen, wie er sagt. Darüber hinaus seien seine Möglichkeiten im Kampf gegen die Schlepper begrenzt.
    "Ein-, zweimal im Monat lasse ich ihre Autos beschlagnahmen, so bekomme ich sie wenigstens am Geldbeutel zu packen. Sie parken ihre Autos hier im Camp, sehen Sie, da hinter dem Container stehen ein Ford und ein BMW mit britischen Kennzeichen. Aber das Gelände gehört der Stadt, parken ist hier verboten, also kann ich die Autos beschlagnahmen und lasse sie dann versteigern."
    Unterstützung bekommt Dhersin von der französischen Grenzpolizei. Seit Jahren geht sie gegen die Schlepperbanden in und um Calais vor. 19 Schleuserringe haben die Polizisten in diesem Jahr bereits zerschlagen. Seine Kollegen tun, was sie können, versichert Grenzpolizist Arnaud Pochet. "Wir schöpfen das Meer mit einem Teelöffel aus. Wir nehmen einen Schlepper fest, aber eine Viertelstunde später ist wieder ein neuer da. Solange es Flüchtlinge gibt, die nach England wollen und dafür Geld bezahlen, solange wird es auch Schlepper geben, die hier ihre Arbeit verrichten."
    Und Arnaud Pochet weiß genau wie Bürgermeister Franck Dhersin: So schnell werden den Schleppern nicht die Kunden ausgehen - bei den vielen Flüchtlingen, die zurzeit in Südeuropa ankommen. Eines sei klar, sagt Pochet: Wer nach England will, landet früher oder später in der Gegend von Calais.