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Nordpol-Route
Flucht ohne gefährliche Bootspassage

Viele Flüchtlinge, die über das Mittelmeer kommen, nehmen die sogenannte Balkan-Route. Eine lebensgefährliche Flucht, die oft viel Geld kostet. Viel Geld kostet auch eine andere Route, die sehr viel weiter ist, aber auch mehr Sicherheit verspricht. Die sogenannte Nordpolar-Route. Sie führt von Moskau weiter über die russische Hafenstadt Murmansk nach Norwegen.

Von Gunnar Köhne | 29.09.2015
    Eine norwegische Zollbeamtin kontrolliert eine Frau aus Eritrea in einem Nachtbus.
    Eine norwegische Zollbeamtin kontrolliert eine Frau aus Eritrea in einem Nachtbus. (dpa / Heiko Junge)
    Eisklare Seen, sumpfige Wiesen und niedrige Birken in glühenden Herbstfarben. Mittendrin ein niedriger Holzbungalow. Der norwegische Grenzposten Storskog bei Kirkenes. Hier verläuft Europas nördlichste Außengrenze. Hüben Norwegen, drüben Russland.
    Normalerweise ist an dieser Grenze nicht viel los. Ein paar Russen, die zum Einkaufen nach Norwegen kommen, Norweger, die zum billigen Tanken in die russische Grenzstadt Nikel fahren. Aber mit der Beschaulichkeit ist es seit einiger Zeit vorbei. Denn auch hier oben sind die Krisen des Nahen Ostens angekommen. Der Chef dieses Grenzabschnitts zeigt auf hunderte Fahrräder, die sich in der Garage der Grenzpolizei stapeln.
    "Diese Fahrräder sind von Flüchtlingen zurückgelassen worden. Sie haben damit die Grenze überquert. Denn nachdem bekannt geworden ist, dass wir ein Strafgeld gegen diejenigen erheben, die Asylsuchende über unsere Grenze fahren, haben sie sich für das Fahrrad entschieden."
    Und Fußgänger lassen die russischen Grenzbehörden nicht durch.
    Darum musste auch der Syrer Mahir mit seiner Familie die letzten Meter auf einem Fahrrad nach Norwegen rollen. Inzwischen lebt der einst wohlhabende Geschäftsmann aus dem kriegszerstörten Homs mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in einem Aufnahmezentrum für Flüchtlinge in der Nähe von Oslo. Auf der Suche nach einem sicheren Fluchtweg nach Europa habe ihn ein Freund auf die Nordpolarroute über das russische Murmansk aufmerksam gemacht. 6.000 Kilometer, aber dafür keine gefährlichen Bootspassagen, keine Schlepper und nur eine europäische Grenze zu überwinden.
    "Ich habe erst mal ein paar Freunde gefragt: Wo liegt eigentlich Murmansk? Wie weit ist es dorthin? Und dann war die Frage: Wie bekomme ich ein Visum für Russland?"
    Ihre Visa haben sie in der russischen Botschaft in Dubai bekommen. Dann haben sie sich Flugtickets vom libanesischen Beirut über Moskau nach Murmansk gekauft. Eine Reise, die sie schnell vergessen wollen:
    "Am Moskauer Flughafen wurden wir stundenlang festgehalten. Wir durften uns nicht bewegen. Wenn mein Sohn vom Stuhl aufstand, wurden wir angebrüllt. Als wir dann zu dem norwegischen Grenzposten kamen, saßen dort drei Beamte, die uns anlächelten. Sie fragten uns: Suchen Sie in Norwegen Asyl? Willkommen!"
    Die Willkommenskultur der Norweger hat sich herum gesprochen. Die Asylbewerberzahlen steigen. Wer bleiben darf, bekommt acht Monate lang intensiven Sprach- und Landeskundeunterricht.
    Auch Fatima und ihr Mann Amir kommen aus Syrien. Sie leben heute in der Grenzstadt Kirkenes. Die norwegische Flüchtlingshilfe hat ihnen ein Haus gemietet und begleitet sie mindestens zwei Jahre lang. Dann müssen sie selbst für sich sorgen. Dass immer mehr Landsleute über die Nordroute fliehen, kann Amir verstehen.
    "Es ist im Winter hier zwar kalt und wochenlang dunkel. Aber das ist mir nicht so wichtig wie die Sicherheit für meine Kinder. Hier kümmert sich der Staat um sie. Wenn nötig werden sie hier sogar mit dem Taxi zur Schule gebracht."
    Die beschauliche Grenzstadt Kirkenes bietet den Neuankömmlingen zwar kein pulsierendes Leben, aber Norwegen ist dafür ein reiches Land. Und: Noch gibt es hier keinen großen Streit darüber, dass immer mehr Schutzsuchende über die neue Fluchtroute kommen:
    "Ich kann nur hoffen, dass ihnen gut geholfen wird, wenn sie bei uns ankommen."
    "Solange es Platz gibt für die Flüchtlinge, finde ich, gibt es keinen Grund sich Sorgen zu machen."
    Noch ist die Zahl von syrischen Flüchtlingen, die über die russisch-norwegische Grenze kommen, überschaubar. 260 waren es bis Ende August. Aber angesichts der Lage in Südosteuropa könnte sich das ändern, glauben die Behörden. Und dann ließen sich die Flüchtlinge auch nicht vom bevorstehenden Winter abschrecken, fürchtet Grenzpolizist Stein Hansen:
    "In eineinhalb Monaten beginnt es hier zu schneien und dann haben wir Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Man muss natürlich abwarten. Aber ich glaube nicht, dass es so bald aufhören wird."
    Doch abweisen will Norwegen auch in Zukunft keinen Hilfesuchenden, heißt es. Wenn aber immer mehr Flüchtlinge hier oben am Nordpolarmeer über die Grenze drängen, könnte auch Norwegens liberale Asylpolitik auf die Probe gestellt werden.