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Nordrhein-Westfalen
Kaum Integrationshelfer für die Inklusion

In Nordrhein-Westfalen können die Eltern selbst entscheiden, ob sie ihr behindertes Kind auf eine Regelschule schicken wollen. Eine hochumstrittene Regelung: Auch viele Eltern sind nicht glücklich, weil zum Beispiel die Vermittlung der Integrationshelfer nur schleppend funktioniert.

Von Stephanie Kowalewski | 10.08.2015
    Voller Stolz zeigt die fast siebenjährige Greta, was alles in ihrem neuen lila Schultornister steckt.
    "Mein Mäppchen, was da drin ist. Malstifte."
    Das quirlige Mädchen hat das Downsyndrom und gilt daher als geistig behindert. In ein paar Tagen wird sie mit einer großen bunten Schultüte ihren ersten Schultag haben – in einer Regelschule und nicht in einer Förderschule, erzählt ihre Mutter Andrea Gerino:
    "Wir haben ganz, ganz lange gebraucht für die Entscheidung, weil eine Förderschule schon Vorteile hat. Also, es sind kleine Klassen von acht Kindern mit immer zwei Lehrpersonen, Sonderpädagogen. Und das leistet die Regelschule im Moment noch nicht. Also, es sind in der integrativen Klasse 25 Kinder und eine Lehrperson, die ständig anwesend ist. Und stundenweise kommt dann der Sonderpädagoge dazu."
    Anspruch auf Integrationshelfer
    Familie Gerino entschied sich dennoch für die Regenbogenschule in Kempen am Niederrhein, da die Schulleitung samt Kollegium hinter der Idee der Inklusion steht und sogar Pilotschule für ein spezielles Unterstützungsmodell ist. Außerdem steht Greta ja auch noch ein Integrationshelfer zu, sagt Andrea Gerino:
    "Wir haben in unserem Fall nur Anspruch auf eine ungelernte Hilfskraft, die meistens junge Menschen sind, die ein FSJ oder BFD machen."
    Doch da sich immer mehr Eltern für die Regelschule entscheiden, steigt auch der Bedarf an Integrationshelfern, sagt Ingo Schabrich, Schuldezernent im Kreis Viersen, zu dem auch die Stadt Kempen gehört:
    "Wir haben doch eine dramatische Steigerung von Fällen von I-Helfern. Wir sind im Schuljahr 12/13 mit 50 Integrationshelfern gestartet. Mittlerweile liegen wir bei 105. Also, das ist mehr als verdoppelt. Und die FSJler kommen jedes Jahr immer später."
    Vermittlung funktioniert nur schleppend
    Viele meldeten sich oft erst dann bei den vermittelnden Stellen wie Lebenshilfe, DRK oder Caritas, wenn sie eine Absage der Uni im Briefkasten haben. Doch dann läuft die Schule bereits. Und so wissen Dutzende Familien auch wenige Tage vor Schulbeginn noch nicht, wer ihr behindertes Kind beim Schulalltag begleiten wird. So geht es auch Familie Gerino:
    "Man ist schon sehr unruhig, weil man weiß, es geht nicht ohne Integrationshelfer. Wir haben natürlich vorher auch mal eine Probestunde gemacht. Und da zeigen sich dann so Probleme, dass Greta eben nicht sitzen bleibt, wenn keiner neben ihr ist und sie eben diese direkte Ansprache braucht, damit sie konzentriert ihre Aufgaben macht. Und wie soll das denn dann gehen? Die einzige Antwort, die ich dann hatte war: Sie kann dann nicht in die Schule gehen."
    So weit wird es aber wohl in keiner Kommune kommen, betont der Schuldezernent im Kreis Viersen:
    "Niemand wird zu Beginn des Schuljahres ohne Integrationshelfer da stehen."
    Zur Not würden zum Beispiel vorübergehend pädagogische Fachkräfte eingesetzt, doch die sind mit Stundenlöhnen von bis zu 40 Euro deutlich teurer als die FSJler, die maximal 363 Euro im Monat bekommen, rechnet Ingo Schabrich vor:
    "Wir haben im Schuljahr 13/14 insgesamt 496.000 Euro für Integrationshelfer ausgegeben. Im Schuljahr 14/15 sind es schon 858.000 – also man sieht es ist eine sehr große Steigerung genau in dem Jahr, wo die schulische Inklusion eingeführt wurde. Und das wäre dann noch mal eine weitere Steigerung."
    Kritiker halten Landesregierung Versäumnisse vor
    Besonders ärgert ihn, dass die Engpässe absehbar waren. Der Kreis Viersen habe bereits vor zwei Jahren davor gewarnt. Er sieht die NRW-Landesregierung in der Pflicht:
    "Das ist ein systematisches Problem. Wenn man die Schultüren aufmacht für alle, ohne zu regeln, was dahinter passiert. Was es dringend bedarf, ist zu regeln, wie soll inklusiver Unterricht eigentlich stattfinden, wie kann ich die Förderbedarfe eigentlich abdecken? Das hat niemand vorher bedacht. Und das ist Aufgabe des Landes."
    Doch hier schieben sich das Schulministerium und das Ministerium für Integration und Soziales die Zuständigkeiten gegenseitig zu. Auf unserer Nachfrage zum Mangel an Integrationshelfern konnte jedenfalls kein Ministerium etwas Substanzielles sagen. Und so sitzen die Familien mit behinderten Kindern weiterhin auf heißen Kohlen und wissen nicht, wie es weitergehen soll:
    "Unerträglich. Die größte Kritik ist, dass dieses Prozedere so lange dauert, vielleicht auch zu spät anläuft. Dann, finde ich, muss man zumindest vor den Sommerferien, und das finde ich schon knapp, den Familien eine endgültige Entscheidung geben können."
    Für Greta ist unterdessen kurz vor knapp noch eine FSJlerin gefunden worden, die sie aber erst zwei Tage vor der Einschulung kennenlernen soll.