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Norman Naimark
"Genozid"

Völkermord ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts ein international anerkannter Straftatbestand. Das war eine Lehre aus dem Holocaust, dem schlimmsten Genozid aller Zeiten. Der Historiker Norman Naimark hat eine Geschichte des Völkermords vorgelegt, die bis in die Antike zurückreicht.

Von Matthias Bertsch | 30.07.2018
    Buchcover Genozid /Hintergrund Grabsteine der Potocari Gedenkstätte für den Völkermord in Srebrenica.
    Norman Naimark gibt in seinem Buch einen Überblick über die Geschichte des Genozids (Buchcover wbg Verlag/ Hintergrund picture alliance / dpa / Foto: Thomas Brey )
    Norman Naimark beruft sich in seinem Buch auf Raphael Lemkin. Der polnisch-jüdische Jurist, der sich intensiv mit dem Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich beschäftigt und seine eigene Familie im Holocaust verloren hatte, gilt als Vater der Genozidforschung.
    Er prägte maßgeblich die Völkermordkonvention der Vereinten Nationen von 1948. Sie definiert Völkermord als Handlungen, "die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören."
    Mongolen und Kreuzfahrer wateten durch Blut
    Norman Naimark ergänzt diese Definition um die gezielte Vernichtung sozialer und politischer Gruppen: auch sie habe Raphael Lemkin bereits im Blick gehabt. Norman Naimark schreibt:
    "Lemkin fand einen Begriff für vorsätzlichen Massenmord, der aussagekräftig und nachhallend, effektiv und von Dauer ist. Dieses Buch geht ebenfalls davon aus, dass Genozid ein weltweites historisches Phänomen ist, das mit dem Beginn der menschlichen Gesellschaft in die Welt kam."
    Was folgt, ist ein Schnelldurchgang durch die Geschichte des Genozids. Den Anfang machen das Alte Testament und die griechischen Klassiker. Die in ihnen beschriebene Vernichtung feindlicher Völker ist zwar oft geschichtlich nicht belegt, doch als Metaphern seien diese Genozide bis heute wirkmächtig.
    Belegt dagegen sind die Kriegergenozide: Mongolen und Kreuzfahrer wateten buchstäblich durch Blut, um ihre Vorstellungen von Ehre oder religiöser Überlegenheit zu verwirklichen. Ähnliches gilt für die Eroberung der neuen Welt.
    "Die Spanier führten eine neue rassische Komponente in das Denken über die Ureinwohner ein. Die Indios waren minderwertige Wesen und keine wirklichen Menschen, die man mit gutem Recht ihrer Freiheit und ihres Lebens berauben durfte."
    Moderner Genozid: industrieller Massenmord
    Die "Entdeckung Amerikas", wie es hierzulande meist noch heißt, hatte verheerende Folgen für die indigenen Völker, und es gehört zu Stärken des Buches, dass es deutlich macht, dass die europäischen Konquistadoren und Siedler im Rahmen des Kolonialismus vor Genoziden nicht zurückschreckten.
    Das gilt auch für den Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Die Tatsache, dass die Täter in diesem Fall nicht mehr die Siedler selbst waren, sondern der Staat handelte, markiert für Norman Naimark den Übergang vom Siedlergenozid zum modernen Genozid, der schließlich im Holocaust gipfelte.
    "Die Nazis nahmen selbstverständlich eine Sonderstellung auf der langen Liste der Völkermörder ein, da sie bewusst Methoden industrieller Tötung entwickelten - den Einsatz von Gaswagen, Gaskammern und Krematorien zur Beseitigung von Leichen - die in der Geschichte des Völkermords beispiellos und seitdem nie wieder angewandt worden sind."
    Allerdings weist Norman Naimark auch darauf hin, dass die Mehrheit der jüdischen Opfer nicht vergast wurde. Knapp zwei Drittel wurden erschossen, verhungerten oder starben an Krankheiten.
    Kaum minder brutal waren die kommunistischen Genozide unter Stalin, Mao oder Pol Pot, auch wenn diese ihre Gegner nicht als Rassen- sondern als Klassenfeinde bezeichneten.
    Norman Naimark schreibt: "Die Täter belegten diese Feinde häufig mit Eigenschaften, die regelmäßig ethnischen, religiösen und nationalen Gruppierungen zugeschrieben wurden, und beseitigten sie dann 'als solche', wie es in der Völkermordkonvention heißt."
    Ein Blutbad jagt das nächste
    Zu den Genoziden nach dem Kalten Krieg gehören der Völkermord an den Tutsi in Ruanda und die "ethnischen Säuberungen" auf dem Balkan. Obwohl die Zahl der Opfer in Ruanda - in drei Monaten wurden 800.000 Menschen auf grausamste Weise ermordet - hundertfach größer ist als die des Massakers von Srebrenica, ist die Erinnerung an Srebrenica aus europäischer Sicht viel schmerz- und schamhafter. Mitten in Europa wurden, unter den Augen niederländischer UN-Soldaten, muslimische Flüchtlinge an die bosnisch-serbische Armee ausgeliefert - und in der Folge gefoltert und hingerichtet.
    Auch daran zu erinnern, ist Naimarks Verdienst, so wie es ihm in der Kürze des Buches gelingt, zahlreiche weitgehend vergessene Massenmorde in Erinnerung zu rufen.
    Die Schattenseite dieser Kürze ist, dass die Hintergründe der jeweiligen Völkermorde nur angerissen werden. Die Politik Hitlers zum Beispiel führt der Historiker vor allem auf die wirtschaftlichen und emotionalen Folgen des Ersten Weltkriegs zurück.
    Für ein Innehalten und Nachdenken bleibt kaum Zeit, weil auf den nächsten Seiten schon das nächste Blutbad wartet. Das führt beim Lesen auch zu einer gewissen Abstumpfung. Eine Empathie mit den Opfern ist angesichts der sich ständig wiederholenden Gewaltorgien kaum möglich.
    Vom Massenmord zum schleichenden Genozid
    Doch trotz offener Fragen ist Norman Naimark mit seinem Buch ein Überblick über die Geschichte des Genozids gelungen, der einem manchmal den Atem stocken lässt. Am Ende zieht der Historiker ein interessantes Resümee:
    "Eine der Grundaussagen dieser kurzen Studie ist die, dass die Genoziddefinitionen des ausgehenden 20. Jahrhunderts bei der Theoretisierung des Problems des Massenmordes zu Unrecht den 'modernen' Genozid in den Vordergrund rücken und die longue durée unberücksichtigt lassen."
    Das ist ein wichtiger Gedanke, denn er ermöglicht es, auch die Vertreibung und Vernichtung von Minderheiten wie den Rohingya in Myanmar als das zu bezeichnen, was es ist: als schleichenden Genozid.
    Norman M. Naimark: "Genozid. Völkermord in der Geschichte",
    Theiss Verlag, 224 Seiten, 24,95 Euro.