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Norwegen auf dem Prüfstand

Die große Frage, die die Osloer Richter von nun an beantworten müssen, ist, mit wem sie es bei Anders Behring Breivik eigentlich zu tun haben. Ist der geständige Mörder ein Geistesgestörter oder ein zurechnungsfähiger Besessener? Doch nicht nur für das Gericht wird der Prozess zur Belastung, sondern vor allem für die Überlebenden von Utoya.

Von Marc-Christoph Wagner | 16.04.2012
    Oslo heute Morgen. Auf den ersten Blick ist es ein Montag wie jeder andere auch – Passanten auf dem Weg zur Arbeit, die einen zielstrebig, die anderen noch etwas verträumt. Die Zeitungen am Kiosk vor dem Osloer Dom aber machen schnell deutlich: Ein normaler Montag ist dies nicht: "Die Stunde der Abrechnung", titelt die renommierte Dagsavisen, "Ich freue mich, dass er seine Strafe bekommt", zitieren die Kollegen vom Boulevard einen Überlebenden.

    "Es ist an der Zeit. Ich bin Lehrer und deswegen habe ich die Zeitungen auch gekauft, denn natürlich sprechen wir darüber heute auch in der Schule. Ich bin gespannt, wie dieses Verfahren ablaufen wird. Es ist an der Zeit, das es nun anfängt."

    Vor dem Osloer Gerichtsgebäude tummeln sich Journalisten seit dem frühen Morgen. Mehr als 1000 Medienvertreter aus aller Welt sind für den Prozess akkreditiert, die norwegischen Fernsehsender senden den ganzen Tag über live vom Platz vor dem Gericht. Wer in das Gebäude hinein will, muss sich akribischen Sicherheitskontrollen unterziehen.

    "Es ist der größte Prozess seit dem Zweiten Weltkrieg. Nichts ist mit ihm, ist mit dieser grausamen Terrortat, vergleichbar. Rund 1000 Menschen werden in dieses Gerichtsgebäude alltäglich hineinwollen. Die kommenden zehn Wochen werden für uns alle sehr aufreibend."

    Der Prozess selbst – er dürfte eine neuerliche Zerreißprobe für die Norweger werden. Heute und in den kommenden Tagen wird Anders Behring Breivik aussagen. Sein Anwalt Geir Lippestadt hat die Öffentlichkeit bereits vor dem Auftreten seines Mandanten gewarnt:

    "Wenn er etwas bedauert, dann lediglich, dass er nicht noch weiter gegangen ist, als er es am 22. Juli tat. Die Öffentlichkeit muss sich innerlich auf sehr aufreibende Tage und Wochen einstellen."

    Doch egal wie schmerzhaft, Breivik muss zu Wort kommen – das meint nicht nur sein Anwalt, sondern auch Staatsanwältin Inger Bejer Engh. Nur so könnten die Richter am Ende entscheiden, mit wem sie es zu tun haben – einem Geistesgestörten, wie es das eine rechtspsychiatrische Gutachten behauptet, oder einem durchaus zurechnungsfähigen Besessenen, wie es das zweite nahelegt:

    "Wie gibt er sich? Wie reagiert er? Wer ist er? Das alles sind wichtige Fragen. Und deswegen muss Breivik sprechen, muss er darlegen, wie er unsere Gesellschaft sieht. Nur so können die Richter letztendlich zu einem Urteil gelangen."

    Unterdessen mehren sich die Stimmen, die vor einer zu ausführlichen Beschäftigung mit dem Gerichtsprozess warnen. Eine große norwegische Tageszeitung lässt ihren Lesern die Wahl – per Knopfdruck können sie sich für eine Breivikfreie Onlineausgabe entscheiden. Auch Ministerpräsident Jens Stoltenberg appelliert an seine Landsleute:

    "Ich bin besorgt, dass dieser Prozess vor allem die Jugendlichen, die auf Utoya waren, so hart trifft, dass sie erneut paralysiert oder zurückgeworfen werden, dass sie nicht zur Schule gehen oder sich auf ihre Prüfungen vorbereiten können. Dann hätte der Täter noch mehr Schaden angerichtet, als er es bereits getan hat."

    Auch viele Überlebende des 22. Juli gehen mit zwiespältigen Gefühlen in den Prozess. Einerseits wünschen sie sich, dass Norwegen diese Prüfung besteht, dass rechtsstaatliche Prinzipien und demokratische Grundwerte nicht kompromittiert werden. Andererseits, so Björn Ihler, sei die juristische Auseinandersetzung mit Breivik nur das eine:

    "Es ist gut, dass das Verfahren nun beginnt. Wir haben lange, schwere Monate hinter uns. Wir alle aber, die wir auf Utoya waren,verarbeiten diese Ereignisse noch immer – und das wird auch noch sehr lange andauern."

    Montagmorgen in Oslo. Ein ganz normaler jedoch ist es bei weitem nicht.

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