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Norwegen ist "sehr auf sich selbst fokussiert"

Fremdenfeindlichkeit sei in Norwegen eindeutig vorhanden, Integrationspolitik eine große Herausforderung für die Zukunft, meint die norwegische Politikwissenschaftlerin Ingvill Mochmann. Sie glaubt jedoch, man werde dem Attentäter Anders Breivik die Bühne im Gerichtssaal "nicht uneingeschränkt überlassen".

Ingvill Mochmann im Gespräch mit Friedbert Meurer | 17.04.2012
    Friedbert Meurer: Ingvill Mochmann ist Norwegerin, arbeitet als Professorin für internationale Politik hier in Köln. Gestern hat sie den ganzen Tag lang den Prozess im Fernsehen verfolgt, und als ich gestern Abend bei ihr war, da lief im Wohnzimmer immer noch NRK II, das Zweite Norwegische Fernsehen, mit letzten Diskussionen über den Prozess gegen Anders Breivik. Ingvill Mochmann habe ich dann gefragt, was sie gestern im Verlauf des Tages empfunden hat.

    Ingvill Mochmann: Also es war schon heftig und man sieht, wie er dann reingeführt wird und im Gerichtssaal sitzt. Das ist schon schwer auch, das ist sehr bedrückend.

    Meurer: Als Anders Breivik die Faust hochhielt zum Tempelritter-Gruß, was ging da in Ihnen vor?

    Mochmann: Er hat im Grunde dadurch schon die Akzente gesetzt, wofür er dann auch steht, und dann habe ich gedacht, das muss ja jetzt auch nicht sein, er hat nichts verstanden, und war eigentlich darauf eingestellt, dass dann mehrere Ausbrüche im Laufe dieses Tages in diesem Verfahren auch von ihm kommen würden, was dann aber so ja dann nicht passierte, außer dass er ein paar Sachen sagte und der Richterin dann sagte, er würde das Gericht nicht anerkennen und so weiter.

    Meurer: Wie wirkte er dabei auf Sie, als er gesprochen hat?

    Mochmann: Ich fand es überraschend, dass er so leise, so ruhig, fast schon sanft redete, wobei ich nicht sicher bin, ob das dann vielleicht doch eine gewisse Strategie war, weil er wusste, heute würde ja die Staatsanwaltschaft vorlesen, was er alles getan hat, dass er irgendwie gedacht hat, jetzt versuche ich mal, ein bisschen nicht so aggressiv rüberzukommen.

    Meurer: In Deutschland wird kritisiert - und ich glaube, bei Ihnen in Norwegen auch - die Art und Weise, wie Anders Breivik eine Bühne bekommt mit dem Prozess. Wie haben Sie das empfunden bei der Berichterstattung?

    Mochmann: Ich bin ambivalent. Ich sehe das Problem, dass man es als Bühne empfinden kann, so wie er es dann genutzt hat, wie Sie sagten mit dem Gruß ganz am Anfang, mit der Kritik, er will ja vor einen Kriegsgerichtshof gestellt werden, er meint, er ist im Krieg gegen die islamische multikulturelle Welt, und dass das norwegische Gericht deshalb nicht zuständig sei. Und ob er diese Bühne dann so nutzt, wird sich ja erst dann feststellen und werden wir sehen, wenn er reden wird, wobei das ja nicht live gesendet werden soll. So gesehen wird man ihm diese Bühne ja nicht uneingeschränkt überlassen, wenn ich das jetzt richtig mitbekommen habe, gerade um die Angehörigen zu schützen, weil man nicht weiß, was er tatsächlich machen und sagen wird, und sich sicherlich dann auch das Recht vorbehalten will, ihn zu kontrollieren.

    Meurer: Wir stellen uns Norwegen als ein ziemlich beschauliches Land vor, ein friedfertiges, ein friedliches Land. Frage an die Politikwissenschaftlerin: Haben wir uns geirrt?

    Mochmann: Norwegen ist schon ein friedliches Land, es ist ein wunderschönes Land, ich rede jetzt ganz persönlich als Norwegerin. Ich bin ja jetzt nun lange hier in Deutschland. Aber es ist natürlich schon auch so, dass wenn man als Norwegerin im Ausland lebt, empfindet man schon manchmal, dass Norwegen sehr auf sich selbst fokussiert ist, dass das sehr selbstzentriert ist, dass sicherlich der Wunsch da ist, alles richtig zu machen, dass man meint auch, dass man alles richtig macht. Das Land ist ja immer wieder Platz eins in den Ländern der Welt, wo es am besten ist zu leben. So gesehen war das sicherlich sehr schwer für viele zu akzeptieren, dass es gerade da passieren konnte, weil das stellen wir uns ja nur vor in den Regionen der Welt, wo Armut und Nichtbildung und so was herrscht.

    Meurer: Es gibt eine sehr erfolgreiche Fortschrittspartei in Norwegen, die man als rechtspopulistisch bezeichnet. Wie sehr gibt es so was wie Fremdenfeindlichkeit und Islamphobie in Norwegen?

    Mochmann: Die ist eindeutig schon vorhanden. Ich meine, die Fortschrittspartei, die gibt es seit mehreren Jahrzehnten. Eines der großen Themen, die die haben, sind natürlich die Einwanderungs- und Asylpolitik. Das wurde ja auch kurz nach dem Attentat kritisiert, inwieweit die Sprache und diese Kontroversen das gefördert hat. Ich glaube, das muss man schon differenziert sehen, nämlich dass es ja gerade in Demokratien wichtig ist, dass diese Dialoge und auch Auseinandersetzungen geführt werden. Die Art, wie man die führt, wie man die Stereotypen und die Vorurteile dann rübertransportiert in der Bevölkerung, die sollte man allerdings dann schon überdenken, denn da ist auch ganz klar die Politik in Verantwortung, und ich muss sagen, da finde ich, dass noch mehr Aufklärungsarbeit notwendig ist, auch gerade wenn es um die Fragen geht, wie soll die norwegische Demokratie sich weiterentwickeln, wie soll diese Offenheit und Vielfalt, wie will man das auch politisch umsetzen.

    Meurer: An welchem Punkt machen Sie fest, dass Norwegen nicht so frei und tolerant ist, wie wir das vielleicht immer glauben?

    Mochmann: Es ist vielleicht schwer, es daran festzumachen, dass diese Auseinandersetzungen über gerade Ausländer aus anderen ethnischen Gruppen, dass man denkt, die werden so gut integriert. Es sind aber viele Debatten, die laufen da ununterbrochen. Es gibt Diskussionen gerade in Oslo, gerade in den großen Städten sind sehr viele Gegenden sehr ethnisch, wo die Eltern sagen, wir wollen aber reine norwegisch-ethnische Klassen haben. Die letzten Statistiken zeigen das: Wenn die Bevölkerungsentwicklung so weitergeht, wird Norwegen oder Oslo im Jahr 2040 zur Hälfte aus Immigranten bestehen oder aus Zweitgenerations-Immigranten. Also das sind schon Fragen, die dann wichtig werden, man kann dann nicht mehr einfach sagen, wir wollen jetzt ein ethnisch reines Norwegen. Wo ist es denn ethnisch, wenn das die Generation ist, die auch in Norwegen geboren wird? Übrigens auch Fragen, die sich nicht nur in Norwegen stellen, sondern ja auch diese Diskussionen in Deutschland geführt werden.

    Meurer: Und genau in dieser Situation bekommt Anders Breivik jetzt am zweiten Prozesstag die Gelegenheit, sein gesamtes Gedankengebäude auszubreiten. Auch wenn das zeitversetzt übertragen wird – nicht doch ein ungutes Gefühl dabei?

    Mochmann: Ein ungutes Gefühl, ja klar. Wenn ich das jetzt aber richtig verstanden habe, was ich mitgekriegt habe, denn es ist ja wohl gerade eben erst entschieden worden, dass die tatsächlich dieses nicht live übertragen werden – ob sie es dann tatsächlich komplett übertragen werden, denke ich, wird davon abhängen, was er tatsächlich sagt und wie er die Bühne nutzt, denn es soll ja auch um den Schutz gehen, dass er gerade nicht ungehemmt dann diese Sachen äußern darf, die er möchte. Zum einen Menschen sich äußern zu lassen, wenn das ein Teil ist eines Verteidigungs- und eines Gerichtssystems, das ist ja gerade das, was unseren demokratischen Staat auch ausmacht. Wo die Grenzen setzen, ist dann auch schwierig. Und ich glaube, eine Sache, die wichtig ist, wenn man sieht: das Thema ist ja ununterbrochen da gewesen, auch mit Bildern, auch mit immer neuen Informationen, die ganze Zeit seit dem 22. Juli. Es ist wirklich immer ein Thema gewesen. Und so gesehen kann man sagen - und das ist ja das, was jetzt einige meinen, die gucken können und meinen, dass sie es vielleicht verkraften können -, für die kann es wichtig sein, dass die anderen ihre Grenzen kennen und dann einfach nicht gucken, oder die Informationen dann ausblenden. Ob das tatsächlich möglich ist - das sind psychiatrische Experten, die das gesagt haben -, das weiß ich nicht, wie einfach das tatsächlich ist, sich diesen Informationen zu entziehen.

    Meurer: Heute ist der zweite Tag im Prozess gegen Anders Breivik in Oslo. Ich sprach mit Ingvill Mochmann, norwegische Politikwissenschaftlerin, Professorin für internationale Politik in Köln an der privaten Hochschule Cologne Business School und am Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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