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Norwegen und das Böse

Bis zum letzten Sommer galt Norwegen als ruhiges Land – sympathisch stabil und ein wenig unauffällig. Bis Anders Behring Breivik 77 Menschen tötete. Seit Anfang dieser Woche steht er in Oslo vor Gericht. Eine Gratwanderung für die Beteiligten: Das Interesse der Öffentlichkeit ist groß, doch dem Rechtsextremisten soll kein Forum geboten werden. Und es gilt, Rücksicht auf die Angehörigen der Opfer zu nehmen.

Von Marc-Christoph Wagner | 20.04.2012
    Am Ende der Woche geht es im Osloer Gerichtsgebäude deutlich ruhiger zu, als an den ersten Prozesstagen. Die meisten internationalen Medien sind abgereist. Im Prozesssaal bleiben einige Stühle unbesetzt. In der ersten Reihe versucht Gerichtszeichnerin Esther Maria Bjørneboe zu verstehen, wer dieser Anders Behring Breivik direkt vor ihr ist:

    "Mein Job ist es, hinter die Fassade zu blicken, zu zeigen, was er uns verbergen will. Inwiefern mir das gelingen wird? Ich bin selbst gespannt."

    Ist es ein Geistesgestörter, der dort sitzt? Oder ein zynischer und durchaus zurechnungsfähiger Ideologe? Auch nach den ersten Prozesstagen hat Gerichtspsychologe Pal Grøndal keine eindeutige Antwort.

    "Ich finde es schwierig, ihn zu interpretieren. Offensichtlich ist, er hat sehr viel Einfühlungsvermögen, was ihn selbst betrifft, gegenüber anderen aber fehlt ihm das. Vielleicht hat er diese Eigenschaft, aber sie zu finden, ist nicht leicht."

    Für Harald Stanghelle hingegen, der den Prozess für die renommierte Tageszeitung Aftenposten begleitet, ist das Urteil eindeutig: Breivik hat sich mit seinem Auftreten und seinen Aussagen der letzten Tage selbst entzaubert:

    "Alles, was er hier erzählt - seine Treffen, Orden, Uniformen, das alles fällt zu Boden. Es muss Breivik sehr weh tun, dass er von der Staatsanwaltschaft so sehr entblößt wird."

    Nach wie vor aber ist der Prozess eine heikle Gratwanderung. Für die Medien, die stundenlang aus dem Gericht berichten, Breivik aber keine Bühne bieten wollen. Für die Überlebenden und Hinterbliebenen, die im Gerichtssaal mit anhören, wie Breivik seine Bluttaten rechtfertigt:

    "Ich war nervös, wie es sein würde, mit dem Täter in einem Raum zu sitzen, aber es fiel mir überraschend leicht. Es ist, als ob man ein Bild anschaut, irgendwann hat man sich selbst an den schlimmsten Anblick gewöhnt."

    "Er ist von Konspirationstheorien geprägt und lebt in seiner eigenen Welt. Andererseits aber ist deutlich, dass er sein Verbrechen genau plante und weiß, was er uns angetan hat. Ich bin überzeugt, dass er zurechnungsfähig ist."

    Auch Ministerpräsident Jens Stoltenberg zieht nach den ersten Prozesstagen erleichtert Bilanz. Erst kürzlich war der Regierungschef dafür kritisiert worden, er versuche das Verfahren zu beeinflussen. In einer Talkshow vergangenen Freitag hatte er den Richtern nahegelegt, Breivik als zurechnungsfähig zu werten, ihn zu einer Gefängnisstrafe zu verurteilen und nicht in die Therapie zu schicken. Nun gibt sich Stoltenberg als neutraler Beobachter:

    "Mein Eindruck ist, dass dieser Prozess sehr korrekt und würdig geführt wird, dass wir unseren eigenen rechtsstaatlichen Idealen entsprechen, denn nur so kommen wir als Gesellschaft weiter. Auch deshalb ist es wichtig, dass auch der Angeklagte zu Wort kommt und sich verteidigen kann."

    Die Norweger selbst - sie scheinen gespalten. Einerseits melden die Medien ein enormes Interesse für den Prozess. Viele Passanten auf den Straßen Oslos aber wiegeln ab und wollen den Massenmörder Breivik nicht zu sehr an sich heranlassen.

    "Ich finde, das alles ist zu viel. Breivik - egal, wohin man schaut."

    Ist am Ende der Woche ein wenig Routine im und um das Osloer Gerichtsgebäude eingekehrt, so kann von Normalität doch keine Rede sein. Auch ein kleiner Zettel an einem Strauss Rosen am Absperrgitter vor dem Gerichtsgebäude deutet dies an. Adressiert an die Opfer des 22. Juli steht dort in zierlicher Handschrift geschrieben: I himmelen gjemt, men aldri glemt. Im Himmel verborgen, aber niemals vergessen.