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Norwegische Behörden in Erklärungsnot

Die Arbeit der norwegischen Einsatzkräfte am 22. Juli 2011 wirft viele Fragen auf: Wieso wurde der Attentäter Anders Behring Breivik nicht früher gefasst? Wieso fielen seine Aktivitäten im Internet den Behörden nicht früher auf? Eine Untersuchungskommission soll das klären.

Von Marc-Christoph Wagner | 13.08.2012
    Der Gerichtssaal lauscht gebannt. Am ersten Prozesstag gegen Anders Behring Breivik spielt die Staatsanwaltschaft ein Band ab, auf dem der Notruf eines Mädchens von der Insel Utøya dokumentiert ist. Im Hintergrund sind die Schüsse des Attentäters zu hören – scheinbar gelassen geht er durch die Räume des Gebäudes, in dem sich auch das Mädchen verschanzt hat. Immer wieder wird ihr Flehen, die Polizeibeamten mögen sich beeilen, durch dumpfes Knallen unterbrochen. Auch eine andere Überlebende von Utøya, Frida Moberg, die sich ebenfalls in einem Gebäude verschanzt hatte, berichtet von der scheinbar nicht enden wollenden Zeit, in der Anders Behring Breivik am 22. Juli 2011 ungehindert morden konnte, ehe er von den Sicherheitskräften gestellt wurde.

    "Wir waren still. Mein Überlebensinstinkt sagte mir, du musst jetzt still sein – du kannst nicht lachen, heulen oder um dein Leben rennen, du musst still sein und warten. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit – wir hörten den Helikopter, Sirenen, Boote die ganze Zeit über, eine Dreiviertelstunde lang, was weiß ich. Aber es kam niemand."

    Wie konnte das passieren? Wieso wurde Breivik nicht früher gefasst? Wieso verfügte die Polizei über keinen eigenen Helikopter? Ja, wie konnte Breivik zuvor schon einen mit Sprengstoff gefüllten Transporter direkt vor dem Regierungsgebäude parken? Und wieso haben die Sicherheitsdienste nicht schon sehr viel früher auf Breiviks Aktivitäten im Internet und seine Bestellung von Chemikalien reagiert? Es sind Fragen wie diese, die die Untersuchungskommission zu den Ereignissen des 22. Juli beantworten muss. Fragen, die die zuständigen Sicherheitsbehörden in den Wochen nach den Anschlägen zunächst abwehrten. Selbst der Stasi, so die inzwischen zurückgetretene Chefin des norwegischen Verfassungsschutzes, wäre ein Einzelgänger wie Breivik durchs Netz gegangen. Ihr Nachfolger, Roger Berg, formuliert es diplomatischer:

    "Unsere Aufgabe ist es, Terror in Norwegen zu verhindern und dies ist uns nicht gelungen. Darum möchte ich allen Angehörigen, Opfern und Beteiligten sagen, wie sehr wir das bedauern. Das heißt nicht, dass ich Anhaltspunkte dafür habe, dass meine Organisation die Ereignisse des 22. Juli im Vorfeld hätte verhindern können. Wir tragen keine direkte Verantwortung. Und dennoch – und das mag widersprüchlich klingen – möchte ich im Namen meiner Organisation und aller Mitarbeiter unser Bedauern über das Geschehene zum Ausdruck bringen."

    Dass die Untersuchungskommission zahlreiche Fehler der Einsatzkräfte am 22. Juli 2011 festgestellt hat, das wurde bereits im Laufe des Wochenendes bekannt. Die Frage ist, welche politischen Konsequenzen daraus gezogen werden. So wurde in den vergangenen Monaten Kritik laut an den Sparmaßnahmen der seit 2005 amtierenden rot-grünen Regierung, manch einer führt darauf die mangelnde Einsatzbereitschaft der Behörden zurück. Ministerpräsident Jens Stoltenberg geht in die Offensive. Erst kürzlich kündigte sein Kabinett an, die Terrorabwehr zu stärken:

    "Sicherheitsmaßnahmen und eine offene Gesellschaft – das schließt sich nicht gegenseitig aus, ein Volk, das Angst hat, ist kein freies Volk. Wir sind keine naive Nation, wir brauchen Polizei und Geheimdienste, um uns gegen Gewalt zu schützen. Nur das trägt dazu bei, dass Hass und Gewalt nicht noch einmal eskalieren."

    Die bürgerlichen Oppositionsparteien trafen sich bereits, um sich auf die Veröffentlichung des Untersuchungsberichts vorzubereiten, der mit großer Spannung erwartet wird und für Aufsehen sorgen dürfte. Und dennoch, prophezeit Harald Stanghelle von der Tageszeitung Aftenposten, wird sich die Kritik an Regierung und Behörden bald legen – aus einem einfachen Grund.

    "Fast alle, die aufseiten der Justiz und Polizei mit dem 22. Juli zu tun hatten, haben ihre Posten bereits geräumt – einige freiwillig, wie der Justizminister, andere gezwungenermaßen. Mit anderen Worten: Es gibt kaum noch Köpfe, die rollen können, und das wird die Debatte erfahrungsgemäß versachlichen."