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Norwegisches Inselleben

"Den Oridongo hinauf", beschreibt die Folgen der Globalisierung auf einer entlegenen norwegischen Insel. Dabei bewahrt sich Ingvar Ambjörnsen ein staunendes Verhältnis zur Welt, und zu den Gestalten seines Buchs.

Von Sabine Peters | 29.08.2012
    Er kommt aus Oslo, ist Mitte 50 Jahre alt und hat einen neuen Namen angenommen, er heißt jetzt Ulf. Von der Vergangenheit will er nichts mehr wissen, er sucht einfach Frieden auf einer kleinen Insel in Nordwest-Norwegen. So zieht er mit nur wenig Gepäck bei seiner Brieffreundin Berit ein, deren Ehemann verstorben ist. Ulf bastelt am Boot, stapelt Holz für den Ofen, geht angeln, lernt die anderen Inselbewohner kennen. Trotz kleiner Schwierigkeiten mit den etwas verschrobenen Nachbarn denkt er manchmal: Die Liebe zwischen Berit und ihm und das Leben hier draußen, das alles ist zu schön, um wahr zu sein.

    Der neue Roman des 1956 geborenen Norwegers Ingvar Ambjörnsen kommt an der Oberfläche sehr ruhig daher. Aus der Perspektive des Ich-Erzählers Ulf scheint die Zeit oft stillzustehen. Mit allen Sinnen nimmt er die Landschaft wahr, Vögel und Meer, das Wetter und die Tageszeiten – und dann wieder versinkt er in einer rätselhaften Vergangenheit. "Den Oridongo hinauf", so heißt Ambjörnsens Roman, und der Titel spielt auf alte Reiseberichte an, lässt an Südamerika denken, an den Fluss Orinoco. Wenn Ulf sich an seine gefährliche Reise den sagenhaften Oridongo hinauf erinnert, erfasst ihn eine große Unruhe. Seinerzeit verlor er alle Haare; vielleicht ging es um Buße und Besserung. Früher besuchte er auch regelmäßig ein "blaues Zimmer", in dem er vernünftige Sätze zu hören bekam und Sand im Hals hatte. Aber dann sagt sich Ulf, dass er mit der Vergangenheit abgeschlossen hat, dass er jetzt lebt – und auf der Insel herrscht derzeit große Aufregung. Alle Nachbarn bereiten sich auf die Ankunft einer niederländischen Familie vor. Ein Ehepaar mit Sohn und Tochter will ausgerechnet hier einen Neuanfang wagen und sich dauerhaft niederlassen. Als kultivierte, christliche, weiße Steuerzahler sind die Niederländer höchst willkommen. Aber unmittelbar nach ihrer Ankunft geschieht ein Unglück, und Ulf wird nolens volens zum Freund des zwölfjährigen Sohnes der Neuankömmlinge.

    Ingvar Ambjörnsen hat einen komplexen Roman geschrieben, der verschiedene Ebenen miteinander verbindet. Da gibt es die vorsichtig gezeichnete, anrührende Liebesgeschichte zwischen Berit und dem etwas unsicheren Ulf, dessen Eifersucht auf andere Männer manchmal reichlich bizarre Züge hat. Es gibt die Gespräche der Insulaner, die ihre Zähne kaum auseinander bringen - wobei der Erzähler freimütig zugibt, es mache die Leute aus entlegenen Gebieten immer wütend, wenn solche zähen Dialoge in norwegischen Spielfilmen vorkämen und beliebte Klischees bedienten. Da gibt es sozialkritische Passagen: Auch die kleine Insel mit ihren gerade einmal 1000 Einwohnern soll mit einer unglaublich teuren großen Brücke über den Sund ans Festland angeschlossen werden; die gemütliche Fähre wird dann überflüssig. Ulf gerät in Zorn, weil selbst die Fährleute mit der Vernichtung ihrer Arbeitsplätze einverstanden sind, und weil es den Insulanern nicht in den Sinn kommt, dass die norwegischen Steuergelder besser für soziale Projekte etwa in Oslo angelegt würden. Immer wieder regt er sich über die ignoranten Nachbarn auf, die so unwillig sind, über den eigenen Tellerrand hinauszusehen. Warum, fragen die sich, sollen sie sich hier in ihrer entlegenen Region mit Asylanten aus Afrika, mit Mohammedanern und anderen Unruhestiftern herumschlagen? Lieber umschmeicheln sie die zugereisten wohlhabenden Holländer, die vor einem offenbar unmittelbar drohenden Kalifat in den Niederlanden geflüchtet sind. Ulfs Seitenhiebe auf die Inselgemeinschaft haben oft einen spröden Witz; und sie wirken nicht arrogant, denn der Held zweifelt auch immer wieder an sich selbst.

    Ambjörnsens Roman besticht aber vor allem durch die Leerstelle, die hier umkreist wird. Das Bedürfnis des Lesers, hinter die Vergangenheit von Ulf zu kommen, wird vorsätzlich nicht erfüllt, und das führt während der Lektüre nicht zur Enttäuschung, sondern zieht einen vielmehr in einen merkwürdigen Sog.

    Wer die Elling-Romane dieses Autors kennt, in denen eine der längst Kult gewordenen Figuren Erfahrungen mit der Psychiatrie gemacht hat, kann bei Ulf eine ähnliche Vergangenheit vermuten. Möglicherweise hat er damals im "blauen Zimmer" eine Psychotherapie gemacht. Man muss das nicht genau wissen; denn man kann sich auf jeden Fall ein Bild von Ulfs Verstörung machen - ein Mosaik wird ja auch dann kenntlich, wenn viele Einzelteile fehlen.

    Was ist ein verstörtes, was ist ein erweitertes Bewusstsein; welche Zusammenhänge gibt es da möglicherweise? Das Verrückte und das Heilige liegen in vielen Kulturen nah beieinander. Ganz nebenbei erfährt man: Ulf hat die Erfahrung von Ausgrenzung gemacht und sich seinerseits in Innenräume eingekapselt. Er ist in besonderem Maße fähig, mit der Natur zu verschmelzen. Seine Selbstgespräche münden manchmal in Gespräche mit den Toten, von denen er annimmt, sie wissen mehr als die Lebendigen. Oft fühlt er sich von einem besonderen Geist erfüllt und zieht Vergleiche zwischen sich und Jesus. In seiner stummen Kommunikation mit dem seinerseits verstörten Sohn der Niederländer erzählt er ihm, wie es ist, Licht zu schaffen. Er hat Erfahrungen damit, wie es ist, außerhalb der Zeit zu sein; überhaupt kennt er Grenzüberschreitungen zwischen Außen und Innen; so wie das Gefühl der Gleichzeitigkeit von Schrecken und Ehrfurcht. Ambjörnsen stellt keine medizinische Diagonose; sein Buch romantisiert Ulfs Verstörung nicht, und es trägt auch keine mystischen, esoterische Botschaften. Der Autor sagte einmal sinngemäß, Erzengel hätten Botschaften, Schriftsteller nicht, und er macht im übrigen auch kein Hehl aus seiner Kritik an pathetisch-weihevollen kirchlichen Ritualen.

    "Den Oridongo hinauf", das ist zwar ein Buch, das erkennbar in der Gegenwart spielt und die Folgen der Globalisierung auch noch auf einer scheinbar exotisch-entlegenen norwegischen Insel beschreibt. Dabei verweigert sich die Erzählhaltung allerdings dem, was man mit "Zeitgeist" verbindet. Ambjörnsen hat kein abgeklärtes, zynisches, sondern vielmehr ein staunendes Verhältnis zur Welt, und zu den Gestalten seines Buchs. Sein Roman setzt nicht auf Tempo und action, auf Glamour und Ekel an eben diesem; so wenig, wie er auf die friedliche Idylle des Landes setzt. Dramen ereignen sich beiläufig, und wenn es so etwas wie Verständigung gibt, geschieht sie fast wortlos. Ein stiller Roman, der von Schönheit und Zerbrechlichkeit weiß, und der im Unausgesprochenen weite Räume eröffnet


    Literaturhinweis: Ingvar Ambjörnsen: Den Oridongo hinauf. Roman. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Nautilus-Verlag, 256 Seiten, 19,90