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"Not- und Brotgemeinschaft"

Mit der Parole "Kampf gegen Hunger und Kälte" hat Adolf Hitler am 13. September 1933 das erste Winterhilfswerk eröffnet. Es sollte die materielle Not großer Teile der Bevölkerung lindern und auf diese Weise zur inneren Stabilisierung des NS-Regimes beitragen. Zugleich diente es dem Ziel des totalitären Staates, das Zusammengehörigkeitsgefühl in der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" zu stärken.

Von Volker Ullrich | 13.09.2008
    Im Sommer 1933 gab Reichskanzler Adolf Hitler die Absicht bekannt, ein Hilfsprogramm für die Bedürftigen aufzulegen. Denn in der Spitze des NS-Regimes war man sich darüber im klaren, dass viele Menschen den ersten Winter im "Dritten Reich" noch in bitterer Not würden verbringen müssen. Unter dem Motto "Kampf gegen Hunger und Kälte" wollte das Regime demonstrieren, dass es ihm ernst war mit dem Versprechen, das weitverbreitete wirtschaftliche und soziale Elend innerhalb kurzer Frist zu beseitigen.

    Mit der Führung des Unternehmens wurde Reichspropagandaminister Joseph Goebbels beauftragt. In einer Feierstunde im Propagandaministerium am 13. September 1933 eröffneten Hitler und Goebbels gemeinsam das erste "Winterhilfswerk des Deutschen Volkes". Goebbels unterstrich in seiner Rede, worauf es den neuen Machthabern vor allem ankam: zu zeigen, was sie unter "nationalem Sozialismus" verstanden.

    "Dieser Sozialismus begnügt sich nicht mit leeren Phrasen und Klassentheorien, es ist ein Sozialismus der Tat, der die ganze Nation umschließt. Einer tritt für alle ein, und alle für einen. Das Volk wird eine Not- und Brotgemeinschaft sein, und das Wort, das wir im Kampf um die Macht zu unserer Parole erhoben haben, soll nun, da wir im Besitz der Macht sind, beglückende Wirklichkeit werden: Gemeinnutz geht vor Eigennutz."

    Hitler, der nach Goebbels das Wort ergriff, appellierte an die Opferbereitschaft der Deutschen und beschwor den Gedanken der "nationalen Solidarität".

    "Ich glaube, diese ganze Aktion muss ablaufen unter dem Motto: Die internationale Solidarität des Proletariats haben wir zerbrochen, wir wollen aber lebendig aufbauen die nationale Solidarität des deutschen Volkes!"

    Die proklamierte "Volksgemeinschaft" sollte sich als "Opfergemeinschaft" konstituieren - das war der Grundgedanke. Allerdings war das Winterhilfswerk keine Erfindung der Nationalsozialisten. Bereits 1931/32 und 1932/33 hatten die freien Wohlfahrtsverbände eine "Winterhilfe" für die Notleidenden ins Leben gerufen. Doch die Erfolge waren bescheiden gewesen. Der Aufruf von Goebbels und Hitler erbrachte auf Anhieb Spenden von über 358 Millionen Reichsmark, und dieses Ergebnis wurde Jahr für Jahr gesteigert - bis auf 680 Millionen Reichsmark im Winter 1939/40. Die Propaganda überbot sich denn auch in Superlativen.

    "Das neue Reich ist ein Reich der Sozialisten, und so steht eine Maßnahme im Vordergrund vor allen anderen: Der Führer schafft das größte Sozialwerk aller Zeiten - das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes."

    Angehörige fast aller NS-Organisationen beteiligten sich als ehrenamtliche Helfer, gingen mit der Sammelbüchse von Haus zu Haus, verkauften Abzeichen, Anstecknadeln und Postkartenpäckchen. An jedem ersten Sonntag zwischen Oktober und März wurden die "Volksgenossen" dazu angehalten, ein "Eintopfgericht" zu sich zu nehmen; das auf diese Weise gesparte Geld sollte dem Winterhilfswerk zugute kommen.

    Das alles lief unter dem Zeichen der "Freiwilligkeit", doch weit her war es damit nicht. Arbeiter mussten sich gefallen lassen, dass ihre Spende gleich von ihrem Lohn abgezogen wurde – immerhin zehn Prozent der Lohnsteuer seit 1935. Wer sich dem Spendenaufruf verweigerte, musste mit Sanktionen rechnen.

    Der Dauerappell an die Opferbereitschaft und die ständige Belästigung durch die Sammler sorgten allerdings mit der Zeit für Unmut und Verärgerung. Gerüchte darüber, dass die Spendengelder nicht immer ihre Adressaten erreichten, machten die Runde. Aus der Abkürzung WHW für Winterhilfswerk wurde im Volksmund "Wir hungern weiter" oder auch "Waffenhilfswerk".

    Tatsächlich war der Verdacht, dass das Winterhilfswerk dazu beitrug, den von Hitler vorbereiteten Krieg zu finanzieren, nicht von der Hand zu weisen. Denn auf diese Weise konnte der NS-Staat seine Ausgaben für Sozialpolitik drosseln und das Geld in die forcierte Aufrüstung stecken. Zwischen der Propaganda des Regimes und der gesellschaftlichen Wirklichkeit im "Dritten Reich" bestand eine sich vergrößernde Kluft, und die Historiker tun deshalb gut daran, die Phrase vom "nationalen Sozialismus" nicht wörtlich zu nehmen.