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Notaufnahme in Frankfurt/Oder
Empathie und Geduld mit kranken Senioren

Ein ruhiger Raum, Wohnzimmeratmosphäre, dazu ein speziell geschulter Pfleger: Wie man alte Menschen vor unnötigem Stress in der Notaufnahme bewahrt, macht das Klinikum Frankfurt/Oder vor - und lässt sich das Projekt 50.000 Euro im Jahr kosten. Chefärztin Petra Wilke kann diese Investition nur empfehlen.

Von Vanja Budde | 20.10.2017
    Petra Wilke, Chefärztin der Zentralen Notaufnahme am Klinikum Frankfurt/Oder unterhält sich in einen speziellen Raum für ältere Patienten in der Notaufnahme mit der 92-jährigen Patientin Gertraude Koßmann.
    Petra Wilke, Chefärztin der Zentralen Notaufnahme am Klinikum Frankfurt/Oder, unterhält sich in einen speziellen Raum für ältere Patienten in der Notaufnahme mit der 92-jährigen Patientin Gertraude Koßmann ((c) dpa)
    Rettungssanitäter bringen einen alten Herrn auf einer fahrbaren Trage in die Notaufnahme für Patienten über 75. Der breitschultrige Patient mit gestutztem weißem Bart ist Diabetiker, spürt seinen rechten Fuß nicht mehr. Der Mann war früher selbst Rettungsfahrer, heute lebt in einem Altersheim. Er kann nicht sitzen und wird gleich an der regulären Notaufnahme vorbei in diesen geschützten Raum gebracht.
    "So, habt ihr alles?"
    Die Sanitäter heben den Patienten mit Hilfe eines Lakens in eines der zwei Betten. An der Wand aufgeklebte Blumensticker, freundliche Farben, Regale mit Zeitschriften und Spielen. Ein halbes Dutzend gepolsterte Spezialsessel stehen bereit, die man auch in Liegeposition bringen kann. Ein Ambiente, in dem sich der Patient wohlfühlt.
    "Das ist eine sehr gute Sache. Vor allen Dingen ist hier nichts im Stress wie da vorne. Du bist aus dem Hauptgeschehen raus. Das gibt Ruhe. Und dann die Gestaltung des Zimmers, das ist wohnzimmerartig. Und das beruhigt unwahrscheinlich."
    Nach einer Zusatzausbildung trägt der Pfleger den Titel "Geriatrischer Manager"
    Krankenpfleger André Schreyer reicht dem alten Herrn seinen Teddybären namens "Willi". An einem fahrbaren Monitor überwacht er die Herz- und Atemfrequenz, Körpertemperatur und Blutdruck. Schreyer trägt nach einer Zusatzausbildung den Titel "Geriatrischer Manager". Doch die wichtigsten Eigenschaften hatte der Spross einer Großfamilie mit vielen alten Verwandten schon vor der Ausbildung mitgebracht: Empathie, Ruhe und Geduld.
    "Bei den alten Leuten braucht man viel Zeit. Man muss erstmal das Vertrauen gewinnen und sich dann systematisch langsam herantasten. Man kann nicht einfach hingehen und sagen: 'So machen wir das jetzt!' Sondern man muss ein bisschen Fingerspitzengefühl haben. Wenn man anfängt hektisch zu werden, dann ist es vorbei, dann hat man schon verspielt."
    Ein Arzt kommt und schaut sich den gefühllosen Fuß des Diabetikers an.
    "Merken Sie das, was der Doktor macht?"
    In anderen Kliniken sitzen die alten Patienten in harten Rollstühlen in den Gängen der Notaufnahmen und warten oft viele Stunden auf ihre Diagnose.
    "Das tut mir einfach im Herzen weh. Ja? Also ich leide mit diesen Patienten mit. Und das war auch der Antrieb, eine ganz neue Einrichtung zu schaffen."
    Alte Menschen sind schwer zu diagnostizieren
    Chefärztin Petra Wilke, Leiterin der Zentralen Notaufnahme. Die Hektik dort, der ständige Monitor-Alarm, die Anspannung: Für alte Menschen sei das der pure Stress, der sie allein schon in ein Delirium stürzen könne, einen gefährlichen Verwirrtheitszustand. Dazu komme, dass alte Patienten ohnehin nur schwer zu diagnostizieren seien, erklärt Oberarzt Lars Schipansky:
    "Es liegt daran, dass Patienten vielleicht im Alter dement sind, also nicht mehr richtig kommunizieren können, sich vielleicht an viele Sachen nicht erinnern. Es liegt aber auch daran, dass sich häufig Krankheitsbilder bei älteren Patienten sehr untypisch äußern. Man kann sich auf seine klinische Erfahrung nicht verlassen. Man kann sich auch auf die Laborwerte, auf viele Werte, die wir erheben, nicht verlassen, weil das auch beim älteren Menschen untypisch ist. Sondern man muss wirklich sich die älteren Leute genauer angucken."
    Die Zeit dafür hat der "geriatrische Manager" André Schreyer in der "Alters Unit" gleich neben der konventionellen Notaufnahme. Ein seltener Luxus im heutigen Klinikalltag.
    "Dafür ist er geschult worden, und guckt zum Beispiel, ob Gedächtnisverluste da sind, ob Gangstörungen vorhanden sind. Er beobachtet die Patienten und führt ein sogenanntes geriatrisches Screening durch. Und er hat die Zeit, sich mit diesen Patienten zu unterhalten und erfährt dadurch viel mehr, als wir als Ärzte oder als Pflege in der Notaufnahme erfahren können. Und das ganze Potpourri, dieses ganze Puzzle, - das insgesamt führt dazu, dass nachher die Diagnose des Patienten viel mehr Wahrheitsgehalt hat als das, was wir sonst hier erfahren würden."
    Die altersgerechte Notaufnahme wurde zunächst als Forschungsprojekt finanziert. Nun habe die Klinikleitung beschlossen, sie weiter zu führen, sagt Chefärztin Wilke froh.
    Die Oase der Ruhe kostet 50.000 Euro im Jahr. Eine Investition, die sich jede Klinik leisten sollte, in die oft ältere Patienten kommen, meint Wilke. In Frankfurt/Oder sind von den jährlich mehr als 30.000 Hilfesuchenden in der Notaufnahme rund 8000 alte Menschen. Der Bedarf ist groß.
    "Natürlich bräuchten wir einen André auch abends, nachts und vor allen Dingen an den Wochenenden. Aber das ist eben nicht finanzierbar."