Donnerstag, 25. April 2024

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Notfallseelsorge im Hochwassergebiet

Heinlein: Die Gewalt des Wassers raubte vielen Menschen ihr gesamtes Hab und Gut; eine Grenzsituation, die nicht ohne Hilfe von außen zu bewältigen ist. Neben materieller Unterstützung braucht es auch psychologischen Beistand. In der Region Anhalt sind etwa 20 Pfarrer unterwegs, um als Notfallseelsorger Hoffnung und Trost zu spenden. Eine der am schlimmsten betroffenen Gegenden ist nach wie vor der Stadtteil Dessau-Waldersee. Karin Bertod von der Evangelischen Landeskirche Anhalt betreut dort die Menschen vor Ort und ist nun am Telefon. Frau Bertod, gestern Abend waren Sie das letzte Mal in Waldersee. Wie ist die aktuelle Situation dort?

26.08.2002
    Bertod: Gestern Abend stand in den tieferen Gebieten das Wasser noch um 60 Zentimeter hoch, und damit waren viele Häuser und Gartenanlagen in Waldersee für Menschen mit normalen Gummistiefeln immer noch unzugänglich. Die Menschen dürfen heute - hoffentlich am dritten Tag dann - Nachmittag zwischen 17 Uhr und 19:30 Uhr in den Ortsteil rein. Da steht seit einer Woche das Wasser, und bei über 30 Grad eine Woche lang Wasser im Keller oder Erdgeschoss, da werden die Menschen entsetzliche Szenen in ihren Häusern sehen und erleben.

    Heinlein: Sie können zurück in ihre Häuser, um zu gucken, um zu schauen, aber sie können nicht dort leben, sich wieder einrichten, die Schäden beseitigen. Wie gehen Menschen mit einer solchen Situation um?

    Bertod: Die Menschen gehen eigentlich sehr zivilisiert damit um. Sie wissen: Ich muss meine Gummistiefel einpacken. Um 17 Uhr darf ich da rein. Bei Sonnenuntergang muss ich wieder raus, also gehe ich um 17 Uhr hin, gehe durch den Ort, gehe bis zu meiner Haustür, schaue nach, ob das Wasser schon tief genug unten ist, ob ich rein kann oder noch nicht. Viele gehen auch pünktlich wieder raus, aber sie gehen beklommen raus. Vorgestern sind sehr viele Leute einfach umgedreht und konnten nichts sagen. Gestern Abend standen wir am Ausgang, und viele haben uns einfach nur angeguckt, oder wir haben die Leute nochmals freundlich angelächelt oder informiert, wie man heute wieder in das eigene Haus zurückkehren kann.

    Heinlein: Was belastet die Menschen am meisten, die Angst, die Sorge um Haus und Hof, oder die Frustration, nichts machen zu können?

    Bertod: Der Frust ganz sicher, der Verlust von Hab und Gut auch, und dann, denke ich, auch die lange Zeit, über eine Woche nicht nach Hause zu können, nicht nachgucken zu können, was passiert ist. Viele haben auch mittlerweile unheimlich Angst, wenn sie da reingehen und überhaupt nicht wissen, was sie da erwartet.

    Heinlein: Wie äußert sich diese Frustration? Wie äußert sich diese Angst?

    Bertod: In ganz schlimmen Gesichtern, in Frauen, die ganz langsam da reinkriechen, uns angucken und sagen: Können Sie ein paar Schritte mitgehen. Wir merken das auch und gehen ein paar Schritte mit den Leuten mit. Auch Nachbarn, die zehn Jahre lang nicht miteinander gesprochen haben, finden plötzlich wieder zusammen, und die Wathose geht jetzt von einem zum nächsten Bein, und man begleitet sich dann gegenseitig, oder einer auf der Straße wird vorgeschickt, um zu gucken, wie tief es denn da hinten noch ist, also es ist eine unglaubliche Solidarität zu beobachten.

    Heinlein: Aber welches Gefühl überwiegt insgesamt bei den Menschen, Verzweiflung, Resignation oder der ganz feste Wille, wieder von vorne anfangen zu wollen?

    Bertod: So weit sind sie noch gar nicht. Bei diesen Menschen in Waldersee, deren Hab und Gut seit praktisch einer Woche unter Wasser steht, die seit dem 14. Tag heute evakuiert sind, regiert immer noch die Fassungslosigkeit. Es ist mittlerweile ein zu lange anhaltender Schock.

    Heinlein: Können denn junge Menschen besser mit einer solchen Situation umgehen, oder ist das eher umgekehrt?

    Bertod: Das ist sehr unterschiedlich. Ich glaube, das ist individuell unterschiedlich, und es hat mit dem Alter eigentlich nichts zu tun. Die jungen Menschen hatten das große Glück, dass sie nach der Evakuierung des Ortes etwas tun konnten, nämlich Sandsäcke füllen, und das haben sie Tag und Nach gemacht, und da haben sie sich ausgearbeitet und müssen sich nicht so viele Sorgen machen. Aber bei den Waldeseern, die in Dessau eben evakuiert sind, ist das große Warten angesagt, bis das Wasser weggeht, bis die Gifte beseitigt werden.

    Heinlein: Und welche Hilfe können Sie als Pfarrerin, als Notfallseelsorgerin in diesen Situationen ganz konkret anbieten?

    Bertod: Da sein, zuhören, freundlich da sein, und in den ersten Tagen mussten wir vermitteln zwischen den Leuten, die unbedingt in ihre Häuser beziehungsweise in den Stadtteil reinwollten, und den Einsatzkräften, die sie nicht reinlassen durften, denn Waldersee ist mittlerweile seit über eine Woche Sperrgebiet.

    Heinlein: Gab es Aggressionen, Vorwürfe und Schuldzuweisungen an die staatlichen Stellen, an Polizei und Behörden?

    Bertod: Die Schuldzuweisungen gibt es permanent, und natürlich wissen alle Bürger besser, was man hätte machen müssen, und welchen Deich man wie hätte besser schützen können. Diese Streitereien gibt es natürlich, aber sie sind im Augenblick nicht wesentlich. Wesentlich ist, dass die Menschen eines Tages wieder zurückkehren können, wesentlich ist, dass da das Wasser rausgeht, dass der Schaden angeguckt werden kann, und dass dieses unerträgliche Abwarten endlich ein Ende hat für die Seelen der Menschen.

    Heinlein: Gibt es denn aus Ihren Gesprächen, die Sie in der vergangenen Woche, in den letzten Tagen geführt haben, eine Begegnung, die Ihnen oder Ihren Kolleginnen und Kollegen besonders im Gedächtnis geblieben ist?

    Bertod: Uns im Gedächtnis geblieben ist kein Walderseer, sondern ein Kollege, den wir besucht haben, nämlich der Kollege in Wörlitz, der eine Nacht lang in einem kleinen Dörfchen eingeschlossen war, dann spät nachts doch noch da wieder rauskam, und der jetzt seit über einer Woche wieder in Wörlitz ist und jeden Tag nicht weiß, ob die Straßen, die Zufahrt, wieder überflutet werden und er wieder abgeschnitten ist. Den haben wir besucht, wir haben ihm frische Lebensmittel vorbeigebracht, und wir haben versucht, uns ein bisschen vor Ort noch umzugucken.

    Heinlein: Sie haben es angesprochen, Solidarität ist ein großes Zeichen, ein großes Phänomen in diesen Tagen. Wird denn die so lange verschüttet geglaubte Nachbarschaftshilfe, die Solidarität in solchen Situationen tatsächlich wiederentdeckt?

    Bertod: Ja. Ich habe einen Nachbarn, den ich jahrelange lang nie gesehen habe, mit dem ich nicht mehr gesprochen habe, aber plötzlich sind alte Kommunikationsmuster wieder da. Man redet miteinander. Wie gesagt, die Wathose geht von einem Bein zum nächsten. Was aber auch sehr schön und wichtig ist, ist dass sehr viele Einsatzkräfte aus ganz Deutschland da sind, und dass teilweise diese Schranken Ost-West, West-Ost einfach aufgehoben sind. Man steht zusammen, man hilft sich gegenseitig, man ist füreinander da, man redet miteinander, und da spielt es überhaupt keine Rolle, wer woher kommt, wer wie schlimm betroffen ist. Man hilft sich gegenseitig.

    Heinlein: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio