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Notfallsysteme
Schutzgeister für die Retter

Wenn bei Unglücken oder Naturkatastrophen Opfer gerettet oder geborgen werden müssen, kommen spezielle Techniken zum Einsatz. Die Firma ATE aus Lüdenscheid entwickelt Systeme, mit denen etwa Feuerwehrleute, die bei der Brandbekämpfung selbst in Gefahr geraten sind, schnell gefunden werden können.

Von Mirko Smiljanic | 05.06.2015
    Vollbrand einer Industriehalle in Vettelschoss, Rheinland-Pfalz. Die Feuerwehr bekämpft in der Nacht zum Freitag, 29.05.2015, den Brand.
    Bei der Brandbekämpfung können Feuerwehrleute leicht selbst in Gefahr geraten. (imago/Sascha Ditscher)
    Lüdenscheid in Nordrhein-Westfalen: Großbrand in einem Mehrfamilienhaus. Meterhoch schlagen Flammen aus geborstenen Fenstern, beißender Rauch liegt in der Luft. Mit Hochdruck arbeitet die Einsatzleitung der Feuerwehr an einem Löschplan. Es geht um Minuten, Fehlentscheidungen können Menschenleben kosten. Dabei sind nicht nur die Bewohner des Hauses gefährdet, sondern auch die Retter.
    "Das Problem ist erst einmal, dass wir generell nur mit zwei Leuten in einen Einsatz vorgehen", sagt Jörg Weber, Feuerwehr Lüdenscheid. "Das Ganze noch mit Verrauchung, Orientierungslosigkeit ist da vorprogrammiert, und wenn es dann zu einem Unfall kommt, müssen wir die verunglückten Feuerwehrleute natürlich wieder schnellstmöglich finden können."
    Was abhängig vom Einsatzort ausgesprochen kompliziert sein kann. Es ist heiß, teilweise beträgt die Sicht nur wenige Zentimeter, einen am Boden liegenden Feuerwehrmann zu finden, ist ohne technische Hilfsmittel fast unmöglich. Weil klassische auf GPS basierende Ortungssysteme in Gebäuden versagen, benötigt die Feuerwehr andere Technologien. "Das Gerät heißt Genius, Genius ist Lateinisch und heißt Schutzgeist, der die Person in guten wie in schlechten Zeiten begleitet", erklärt Andreas Töteberg von der Firma ATE-Sicherheitstechnik in Lüdenscheid. Genius wiegt 125 Gramm und hat die Größe eines kleinen Handys, kann also problemlos an der Schutzkleidung des Feuerwehrmanns befestigt werden. Vor jedem Einsatz wird das Gerät per Knopfdruck "scharf geschaltet".
    Bei der Rettung entscheiden Sekunden
    Es piept zweimal, das war’s. Gerät ein Retter nun selbst in Not, etwa weil ihn ein brennender Balken trifft, zieht er an einer Reißleine seines "Schutzgeistes" respektive seines Genius. Sofort werden per Funk die Notortungsgeräte aller anderen Feuerwehrmänner aktiviert. "Jetzt löst mein Gerät aus, jetzt habe ich schon zwei wichtige Informationen, ich weiß, dass er nicht in meinem Nahbereich ist und ich weiß, dass überhaupt etwas passiert ist."
    Nun reichen diese Informationen aber nicht, um den Verunglückten auch zu orten: Liegt er drei Meter vor oder zehn Meter hinter mir? Weil der Sichtkontakt wegen des Rauches abgebrochen ist, muss das Gehör aushelfen.
    Je höher das Piepen, desto näher ist der Feuerwehrmann bei seinem Kollegen. In kürzester Zeit lassen sich so verunglückt Retter sicher orten. Und Zeit, so Andreas Töteberg, sei in kritischen Situation der wichtigste Faktor: Es geht nicht nur um Minuten, manchmal entscheiden Sekunden über die Gesundheit der Retter. Ein äußerst nützliches System, sagen nicht nur Lüdenscheids Feuerwehrmänner, mittlerweile nutzen Genius unter anderem die Berufsfeuerwehren Hannover, Osnabrück und im österreichischen Linz, aber auch die Betriebsfeuerwehren von ExxonMobil, Sandoz und Daimler-Benz verlassen sich auf den Schutzgeist aus Nordrhein-Westfalen.
    Die Verkaufszahlen klettern nach oben, wie hoch der Umsatz genau ist, möchte Andreas Töteberg aber nicht sagen, zurzeit fließe der Gewinn komplett in Neuentwicklungen. Das Entwicklungslabor liegt in Lüdenscheid, produziert wird im nahe gelegenen Dortmund. Zwischen 700 und 1.300 Euro kostet ein einzelner Genius. Trotz des vergleichsweise hohen Preises findet das System immer mehr Akzeptanz, so André Baur von der MDAI mobile solutions GmbH, die den Vertrieb organisiert: "Vor allem die Einfachheit der Geräte und wie schnell man so einen Suchvorgang überhaupt erlernt, das ist das, was es wirklich am Ende ausmacht, und da ist die Akzeptanz auch da, um mal einen hohen Preis in Kauf zu nehmen. Zum Vergleich: Ein normales "Totmann-Warnsystem", was nur blinkt und schreit, liegt im Bereich von 300 Euro."
    Lange Entwicklungs- und Testverfahren
    Das Notortungssystem der ATE-Sicherheitstechnik sei ein Beispiel dafür, dass Innovation nicht nur von großen Konzernen ausgeht: "Man muss einfach die Idee haben, die hatte Herr Töteberg, und alle halten sie für gut." Der Markt für Feuerwehrtechnik sei trotzdem ausgesprochen schwierig, so Baur, neue Entwicklungen durchlaufen langwierige Testverfahren, bis sie die Zulassung bekommen. Vom Design bis zum Material, alles muss stimmen. "Wir haben uns für den besten Kunststoff entschieden, der in der Industrie eingesetzt wird, das ist Polycarbonat, aus demselben Kunststoff sind auch die Visiere der Atemschutzmasken, wenn die also anfangen zu tropfen, dann tropft unser Gerät auch, aber dann ist es auch zu spät."
    Damit solche Situationen erst gar nicht eintreten, hat Andreas Töteberg eine besondere Funktion integriert: Mehrmaliges Ziehen der Reißleine reicht, um den kompletten Einsatz abzubrechen. "So klingt das dann bei allen Angriffstrupps, die müssen sich dann auf die letzte Rückzugsebene begeben."
    Der Einsatz im brennenden Mehrfamilienhaus in Lüdenscheid musste nicht abgebrochen werden. Nach etwas mehr als zwei Stunden war der Brand gelöscht, verletzt wurde niemand, weder Bewohner noch Retter.