Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Notizbücher einer verstaubten Jugend

Albert hat seinen alten Freund Rainer längst aus den Augen verloren. Dann erfährt er, dass er verschwunden und von seiner Familie für tot erklärt wurde. Er hilft mit, eine Art Archiv des Verschollenen anzulegen. Es beginnt eine Reise der Erinnerung.

Von Martin Grzimek | 19.11.2010
    Vielleicht ist jede Reise in die Erinnerung auch eine Reise in vergangene Freundschaften. Und wie fast jede alte und vermeintlich einmal als ewig anhaltend prognostizierte Freundschaft mit den Jahren in ihrer Intensität abnimmt, umso mehr wird sie vom daran Zurückdenkenden idealisiert. "Freunde erinnern sich", so beginnt der 66-jährige Autor Hugo Dittberner einen langen Monolog seines Erzählers Albert in der Mitte seines neuesten Romans "Das See-Vokabularium", in dem er die komplizierte Suche nach einem verlorenen und von seiner eigenen Familie für tot erklärten Freund thematisiert.

    Freunde erinnern sich ... An den lange vom Meer gewaschenen Stein, als sie die Buhne entlang gingen und sich bücken mussten. An das gekräuselte Haar eines Hundes zu ihren Füßen. An die rote Backsteinwand, vor der sie in Gedanken versunken waren (...) An den Lederrücken des kleinen Oktavbändchens im Antiquariat, als Rainer die Robert-Frost-Gedichte fand, in einer zerschlissenen Nachkriegsbroschüre (...) so erhielt es Rainer vom Antiquar geschenkt - und komponierte zum Dank seine Robert-Frost-Lieder.

    Albert hatte seinen alten Freund längst aus den Augen verloren. Da taucht eines Tages plötzlich Rainer Frederkings jüngerer Bruder Torge unangemeldet bei ihm auf und erklärt ihm, dass er auf der Suche nach "Zeugnissen" ist, die sein Bruder bei Freunden hinterlassen hat. Die Familie will eine Art Archiv des Verschollenen anlegen, Spuren, die gesichert werden sollen, denn Rainer ist spurlos verschwunden. Nach vielen Jahren Wartezeit haben die Angehörigen ihn schließlich für tot erklären lassen. Albert, völlig überrascht von dieser Nachricht, erinnert sich natürlich an seinen ehemaligen Studienfreund Rainer, doch das alles liegt für ihn bis zu dreißig Jahre zurück.

    Behalten hat er - im Sinne von Andenken - nichts von Rainer Frederking. Einzig ein paar Notizbücher gibt es, in denen er zusammen mit Rainer Wörter gesammelt hat, die mit der See, mit dem Norden, mit Dünen, Binsen und Glimmer zu tun haben. Eine zwar belanglose, aber auch feinsinnige Beschäftigung mit der Sprache und, im Nachhinein, ein Beweis für die Freundschaft.

    Eines Sonnabends kamen wir, wahrscheinlich war es ein heißer Tag und wir brauchten eine Abkühlung, auf die Idee, dieses See-Vokabularium einzurichten (...) Die See-Wörter und besonders die ein wenig rätselhaften, stimmungsvollen See-Wörter aufzuschreiben, so wie 'Priel', 'Seeluft', auch 'Kombüse'. Wörter, die uns auffielen oder in Zeitungen und Büchern aus dem Rahmen fielen, nichts weiter. Nur als Zeitvertreib!

    Die Notizbücher einer "verstaubte(n) Jugend", wie es der Erzähler nennt, würde Torge gern mitnehmen, aber Albert will sie ihm nicht einfach so aushändigen, sondern beansprucht die Notate als sein geistiges Eigentum, er sei es schließlich gewesen, der die Wörter festgehalten habe. Und prompt, mit dieser Verweigerung, stellt sich ein Sog der Erinnerung bei Albert ein und er fühlt sich zurückversetzt ans Ende der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Denn 1997 hat er diese Notizbücher schon einmal aus der Hand gegeben, vergaß sie bei einer Künstlerin im Malerdorf Worpswede. Damals war Albert zum letzten Mal auf der Suche nach Rainer, weil er von ihm ein recht wertvolles "Dünenbuch" zurückhaben wollte, das er ihm geborgt hatte.

    Mit dieser kleinen Reise, die der Erzähler zusammen mit seiner Freundin Britta unternimmt, beginnt im eigentlichen Sinn Dittberners kurzer Roman. Er schildert die Fahrt in den Norden Deutschlands nach Nordenham, Worpswede, Jever und Bremen. Abgesehen von einem Unwetter und überraschenden Begegnungen mit Künstlern und alten Bekannten geschieht kaum etwas.

    "Das Seevokabularium" ist ein Buch der Aufzeichnungen, Erinnerungssplitter, der stehen gebliebenen Bilder, zufälligen Wahrnehmungen und aufgegebenen Beziehungen, die in der Erinnerung mehr Fragen stellen, als dass Antworten dafür bereit stünden. "Er sprach immer von 'Bojen' und 'Wörtern'", sagt eine gemeinsame Bekannte über Rainers Geheimnistuerei, über seine Einstellung zum Leben als Aussteiger aus der protestantisch geprägten Bildungsbürgerwelt seiner Eltern. Damit sind zwei von Hugo Dittberners Leitmotiven, die er in seinen Prosaarbeiten und Gedichten immer wieder anklingen lässt, angesprochen: das schwankende Suchen nach Orientierung im ständigen Wechsel der Ereignisse und das Bedürfnis, in den Wörtern, dem Klang und der Phantasie, die sie in sich tragen, Halt zu finden. Wie schon die Romane "Das Internat" und die Erzählung "Kurzurlaub", veröffentlicht in den 70er Jahren, mutet Dittberners Prosa biographisch an, denn sie hat den Ton der äußerst persönlich gehaltenen, fast privaten Mitteilung. Im ganz individuellen Erlebnis steckt immer ein Moment der Überraschung über das Wahrgenommene und über sich selbst. Zurück bleibt eine Verwunderung über das Geschehene, es gibt kein Nachfragen, kein Reflektieren, keine Beurteilung. Auch bei der Lektüre dieses neuesten Romans von Hugo Dittberner ist Staunen angesagt und Hinnehmen. Was geschieht, passiert fraglos, eingefroren in der unspektakulär erlebten Aktualität des Augenblicks.

    Und wie ein Sinnbild der stillstehenden Gegenwart dieses schönen Tages fuhr damals ganz in ihrer Nähe ein Trecker wacker auf dem Feld, aus keinem besonderen Grund, schien es. Sie konnten nicht ausmachen, ob der Treckerfahrer jung war und nur übte; aber er säte nicht, er versprühte nicht, er pflügte oder eggte nicht, er fuhr nur. (...) Es war ein sonderbarer, Rainer, wie er verkündete, ganz trunken machender Eindruck von einem scheinbar ohne jedes Ziel auf dem Feld bewegten Trecker.

    Es ist ein leises und schmales Buch, dieses See-Vokabularium, und es ist ihm zu wünschen, dass seine Stimme gehört wird gegen die lauten aber auch oft so monotonen Versprechungen der Kriminalromane - der fünfzehnte Fall! - oder pseudohistorischen Schwarten über das Mittelalter, die die Regale der Buchhandlungen füllen. Aber - auch dies muss man zugeben - das See-Vokabularium wird ein Tipp für Liebhaber einer Literatur bleiben, die sich an unserem Rücken vorbeizuschleichen versucht, um hinter uns aufzutauchen, genauso wie uns selbst bisweilen auch unsere eigene Erinnerung überrascht: unaufgefordert, nachsinnend, für eine Weile in unseren Gedanken bleibend. Wie dieser ehrliche Roman, der die Erinnerung an das Unscheinbare in unserem Leben in uns hineinruft.

    Hugo Dittberner: "Das See-Vokabularium." Wallstein Verlag, 136 S., 18,00 Euro