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Notizen als Material

Die Notizbücher galten lange als das letzte Desiderat der Brecht-Forschung. Nun haben sich Peter Villwock und Martin Kölbel an die Bearbeitung von Brechts Notizbücher gemacht. Mit Band sieben legen sie den ersten der auf insgesamt 14 Bände geplanten Edition vor.

Von Michael Opitz | 11.04.2011
    Bertolt Brecht, der 1933 Deutschland verlassen musste, bilanziert am 8. Dezember 1939 im schwedischen Exil, was ihm gehört. Unter der Überschrift: "Ich besitze" listet der 41-Jährige unter anderem das chinesische Rollbild "Der Zweifler" und die drei "japanischen Masken" auf. Man kann sie noch heute ebenso wie den "Gipsabguss seines Kopfes" in seiner letzten Wohnung in der Berliner Chausseestraße 125 besichtigen. Dass nun auch ein Blick in das "lederne Taschennotizbuch" möglich ist, das Brecht am Schluss dieser im "Journal" zu findenden Inventurliste erwähnt, ist Peter Villwock und Martin Kölbel zu danken. Beide legen mit dem 7. Band von Brechts Notizbüchern nun den ersten einer auf insgesamt vierzehn Bände geplanten Edition vor.

    Bei den Notizbüchern handelt es sich um den letzten geschlossenen, unveröffentlichten Komplex der auf Brecht zurückgehenden Schriften. Dass dieser Komplex nun dank der Unterstützung der Otto-Wolff-Stiftung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, begrüßt der Leiter des Bertolt-Brecht-Archivs, Erdmut Wizisla. Er macht aber auch auf die damit verbundenen möglichen Konsequenzen aufmerksam:

    "Das ist ein absoluter Glücksfall, dass die Notizbücher jetzt in dieser Edition erscheinen. Dass das Konsequenzen hat, ist, glaube ich, auch deutlich. Das zeigen die Herausgeber Peter Villwock und Martin Kölbel, indem sie sagen, dass viele Dokumente, die sie jetzt im Umfeld dieser Notizbücher finden, nicht hinreichend ediert oder kommentiert sind. Die Berliner- und Frankfurter Ausgabe muss da relativ oft – auch weil sie ihren Prinzipien folgen will – Gewalt anlegen: Abschneiden oder auch Zusammentun, die bei Brecht so nicht zusammengetan sind oder die Elisabeth Hauptmann zusammengetan hat. Wir werden vielleicht irgendwann noch einmal eine andere Brecht-Ausgabe haben, und dass die Notizbücher jetzt zeigen, dass das möglich ist, ist erst einmal eine Herausforderung."
    Die Notizbücher sind Brechts privates Archiv. Sein erstes Notizbuch hat er 1918 begonnen. Dazu Martin Kölbel:

    "Das erste Notizbuch ist überschrieben mit dem schönen Titel 'Lieder zur Klampfe von Brecht und seinen Freunden'. Das ist nach unserer Zählung das erste Notizbuch, und der erste Eintrag im literarischen Kontext ist 'Baals'-Lied. Es ist übertitelt: 'Hat ein Weib fette Hüften'. Das ist der Einstieg des jungen Wilden, der offenbar bestrebt ist, gleich zur Sache zu gehen, und das gemeinsam mit seinen Freunden zu bewerkstelligen."

    Für Brecht waren die Notizbücher nützlich, weil sie in jede Jackentasche passten. Brecht verwendete die schwarzen Kunstlederhefte unterwegs, wenn er keine Schreibmaschine nutzen konnte. Dass es sich bei den Notizbüchern um Gebrauchsartikel handelte, darauf weisen die deutlich sichtbaren Abnutzungserscheinungen und Knickspuren hin. Brecht hielt in den Notizbüchern fest, was nicht vergessen werden durfte. Nach Berichten seiner Freunde begann er auf den Zugfahrten zwischen Augsburg und München sofort mit Eintragungen in sein Notizbuch, wenn er einen Sitzplatz gefunden hatte. Die Notizbücher dienten Brecht als Ideenfundus. Jede Zeile war ihm wichtig und nichts durfte verloren gehen, da alles irgendwann von Wert sein konnte. So finden sich denn in den Notizbüchern Gedichtentwürfe und Ideen zu Stücken neben Telefonnummern und Adressen. 54 dieser Merkhefte haben sich erhalten. Allerdings gehen die Herausgeber davon aus, dass Brecht zeitweise mehrere Notizbücher gleichzeitig benutzt hat und einige verloren gegangen sind. Das letzte Notizbuch datiert von 1953. Es wurde drei Jahre vor seinem Tod begonnen. Dazu Peter Villwock:

    "Die letzten Notizbücher fransen dann sehr aus. Das sind wirklich nur noch sehr abgerissene Notate. Da hat Brecht dann seinen Mitarbeiterstab ständig zur Verfügung und kann die Sache direkt diktieren. Die Notizbücher sind ja hauptsächlich dafür da, Gedanken, Ideen, Konzepte festzuhalten, wenn keiner da ist. Also am Ende dünnt das sehr aus und der Schluss unserer Edition sind dann zwei Adressbücher. Eins von 1930, eins von 1950, das heißt, das letzte Wort werden einfach Namen sein. Die aber, kommentiert dann, das ganze Netzwerk von Brechts Kollektiv veranschaulichen werden."
    An den Anfang der Edition stellen die beiden Herausgeber zwei Notizbücher, die den Zeitraum von 1927 bis 1930 umfassen. In dieser Zeit gelingt Brecht 1928 mit der Uraufführung der "Dreigroschenoper" der Durchbruch auf dem Theater. Zugleich stellt diese Phase auch einen Umbruch in der politischen und künstlerischen Orientierung Brechts dar.

    Kölbel: "Wir haben die Notizbücher 24 und 25 ausgewählt, weil sie in eine sehr wichtige Umbruchzeit von Brecht fallen. Also man kann es sehr plakativ sagen: Er entwickelt sich vom Anarchisten zum Sozialisten, das heißt, er entdeckt für sich zum ersten Mal was es bedeutet, dass Literatur nicht im Elfenbeinturm entsteht, sondern tatsächlich ganz eng verknüpft ist mit einer gesellschaftlichen Praxis, mit einem Literaturbetrieb mit Produktionsbedingungen, in denen sie sich zu situieren hat. Und die Notizbücher geben davon ein sehr beredtes Zeugnis, weil sie sehr genau diese Spannung zwischen den zwei Phasen wiedergeben. Diese Umbruchzeit schlägt sich dann auch in sehr verschiedenen Projekten nieder, die relativ eng in den Notizbüchern aufeinander treffen. Das ist zum einen das große Projekt 'Fatzer', das sich über mehrere Jahre hin zieht, dann haben wir Entwürfe zu einer dialektischen Dramatik, wo der Versuch unternommen wird, eine überkommene Theaterpraxis zu öffnen für die gesellschaftlichen Realitäten und wir haben sehr polemische Auseinandersetzungen mit seinem Widersacher Alfred Kerr."
    Von Alfred Kerr wurde Brecht des Plagiats bezichtigt, weil der Autor der "Dreigroschenoper" Texte von François Villon verwendet hatte, ohne sich um die Urheberschaft zu kümmern. Überlegungen, wie man auf die Vorwürfe Kerrs zu reagieren hat, wurden zunächst im Notizbuch festgehalten.

    Kölbel: "Brecht hat dann nicht so darauf reagiert, dass er eine polemische Returkutsche fuhr, sondern er hat Kerrs Kritik als Symptom für ein bestimmtes Verständnis von Literatur genommen. Er hat Kerr der 'kulinarischen Kritik' geziehen, das heißt Kerr ist der große Vorkoster, der abschmeckt, was dann für das Publikum, das seine Kritiken liest, taugt und was nicht taugt. Brecht hat klar dagegen votiert: Es kommt nicht auf den Geschmack an, sondern es kommt auf die Analyse an. Es kommt nicht auf die Oberfläche an, sondern es kommt auf die inneren Zusammenhänge an. Und Brechts Polemik zielt schon darauf ab, die implizite Genie-Ästhetik aufzulösen und eine eigene Materialästhetik der Bearbeitung zu finden."
    Äußerst akribisch kommentieren die Herausgeber in den Erläuterungen die von Brecht vorgenommenen Einträge. Man muss deshalb kein ausgesprochener Brecht-Experte sein, um sich an dieser Edition erfreuen zu können. Es genügt ein wenig Neugier, denn für das Verständnis der notwendigen Zusammenhänge sorgen die beiden Herausgeber durch ihre kenntnisreichen und umfassenden Kommentare.

    Villwock: "Das fängt bei einfachen Wortentzifferungen an. Es ist einfach ein Unterschied, wenn bisher gelesen wurde, dass der Chor einer Nordpolrettungsexpedition empfiehlt: 'Nehmt auch einen Kimono mit'. Und wir können das jetzt berichtigen in: 'Nehmt auch einen Kinomann mit'. Da wird das ganze Stück in ein anderes Licht gestellt. Brecht, der Medien wichtig nahm, und der 'Kimono' ist einfach nur surreal und unsinnig."

    Kölbel: "Für mich war die Sensation eher, Brecht beim Arbeiten zuzuschauen. Ich fand es sehr faszinierend zu sehen, dass er seine Notizen meistens unangetastet lässt. Also, er greift gar nicht so häufig redigierend ein, außer von wenigen Sofortänderungen abgesehen, die er vornimmt – er belässt sie so. Und das finde ich schon ein starkes Indiz dafür, dass er sein Material wirklich geschätzt hat. Das war nichts, was man wegwerfen muss, sondern was man bewahren muss, weil es die Keimzelle von allem ist und das fand ich sehr faszinierend zu sehen."
    Brechts Notizbücher vermitteln einen Eindruck vom Werden der Werke, wobei nicht der fertige Text im Zentrum steht, sondern der Fokus wird auf die Anfänge gerichtet. Die Notizbücher werden so zu Wegweisern durch Brechts Dichterwerkstatt, denn sie markieren jene entscheidenden Punkte, was aus den ersten Ideen und flüchtig hingeschriebenen Überlegungen geworden ist. Dabei sind interessante Entdeckungen zu machen. So hat Brecht beispielsweise das Gedicht "Das Zehnte Sonett" mit der letzten Strophe begonnen und sich dann schreibend bis zum Gedichtanfang vorgearbeitet. Die erste Zeile des Gedichts "ich wünsche nicht dass diese welt mich liebt" war – so jedenfalls legt es die Chronologie der Niederschrift nahe – nicht der Ausgangspunkt des im Juni/Juli 1928 entstandenen Gedichts.

    Villwock: "Mit unserer Ausgabe findet, das kann man tatsächlich sagen, in der Brecht-Edition ein Paradigmenwechsel statt. Weg vom Lesetext, weg vom Kulinarischen, weg vom Werk, vom Abgeschlossenen, hin zu einem materialen Verständnis von Literatur, dass man dann auch sehen muss. Das muss gezeigt werden. Deshalb auch die Reproduktionen, die bei uns im Zentrum stehen – Reproduktion und Transkription. Damit ist eine neue Stufe an Wissenschaftlichkeit erreicht und das ist einfach ein anderes Herangehen."

    Bertolt Brecht: "Notizbücher 24-25 (1927-1930)". Band 7, herausgegeben von Peter Villwock unter Mitarbeit von Martin Kölbel im Auftrag des Instituts für Textkritik (Heidelberg) und der Akademie der Künste (Berlin), Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 539 Seiten, 24,90 Euro.