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Notizen eines Rastlosen

Peter Handke schreibt mit der Hand. Er schreibt unterwegs, er schreibt im Café, er schreibt in einem Linienbus im Friaul oder auf südspanischen Eukalyptuslichtungen. Das Leben mitschreiben: Diese Grundlinie seiner Literatur ist in seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen immer am deutlichsten geworden. Sie sind im Lauf der Jahre in losen Abständen erschienen und hießen "Das Gewicht der Welt", "Die Geschichte des Bleistifts" oder "Am Felsfenster, morgens". Der dickleibige Band, der jetzt mit dem Titel "Gestern unterwegs" in die Buchhandlungen kommt, soll nach Handkes Angaben der letzte dieser poetischen Notizen sein: "ein Mit-Schreiben im Sinn der früheren Journale" finde heute bei ihm nicht mehr statt.

Von Helmut Böttiger | 31.07.2005
    Bei "Gestern unterwegs" handelt es sich um Aufzeichnungen vom November 1987 bis Juli 1990. Es war eine Zeit des ständigen Unterwegsseins, des Reisens ohne festen Wohnsitz. Die Stationen sind zahlreich und gar nicht alle aufzuzählen: von Kärnten, Handkes angestammter Heimat, geht es über Slowenien und den Balkan bis nach Ägypten, nach Japan und Alaska, immer wieder unterbrochen von Aufenthalten in Paris und Frankreich, dem italienisch-slowenischen Grenzgebiet und Streifzügen durch Spanien oder Schottland. Das Buch endet mit dem Einzug in das neu gekaufte Haus im Pariser Vorort Chaville.

    Schreiben und Leben sind für Handke eins, und manchmal, am ehesten an den entlegensten Orten, findet er Bilder dafür:

    " Der Cairn gestern auf der Schafweide weit außerhalb von Inverness, die Granitblöcke des vorzeitlichen Steinmals überzogen mit Flechten - die Stirn daran, und der Herzschlag verbunden mit den Blöcken - die Eiche inmitten des Cairn-Steinkreises aufwachsend - und für einen Moment richteten die Kelten wieder den einen Riesenstein, außerhalb des Kreises, auf aus der Waagrechten, ich spürte an mir das gemeinsame Sichanstemmen der Schultern und Schädel - und nachher die vielen, vielen meerwärts aufeinander folgenden Weiden, nichts als Schafe und Wildhasen, zwischen den Weiden die (fast) unüberwindbaren Bachschluchten (ich könnte jetzt in einer dort liegen, gestürzt), die wie Mäntel wehenden Felle der Schafe beim Wegrennen - und dann war ich in Durdoch der einzige, der aus dem Bus stieg, bei Wind und Regen, und meine seligen Vorfahren suchten mich wieder einmal auf dem Erdkreis, fanden mich endlich im nordschottischen Nest hier und verwunderten sich: "Wo ist er denn jetzt wieder?""

    Die auf den ersten Blick unscheinbaren, randständigen Orte, das Unspektakuläre, aber besondere, und vor allem die Wahrnehmung der kleinen Dinge und Alltagsbilder kehren in diesen Notizen immer wieder. Dabei kann es zu nahezu ekstatischen Momenten kommen, beim Betrachten eines südlichen Löwenzahns etwa oder im Büffetwagen der spanischen Eisenbahn, wo die Szenerie sofort zu einem poetischen Inbild wird. Doch daneben stehen poetologische Überlegungen, Selbstvergewisserungen beim Schreiben, literarische Postulate. Man kann dieses Buch nur wie einen Aphorismenband lesen. Wer einen offen ausgewiesenen roten Faden, so etwas wie einen Handlungsstrang erwartet, wird brüsk zurückgewiesen:

    " Wie ist "plot" allein als Wort schon abstoßend"

    Einen breiten Raum nehmen Beschreibungen von Kunstwerken aus der Zeit der Romanik ein, die frühmittelalterliche Schlichtheit: Handke fühlt sich in sie ein, hier versucht er, sich aufgehoben zu fühlen. In den romanischen Formen findet er seine "Dorfheimat" wieder, und er sucht sie in allen möglichen Landstrichen auf: in Slowenien und Kroatien, aber auch in Spanien und Portugal. Sein Lieblingsmotiv ist dabei die "Wurzel Jesse", in jeder Kirche, die er betritt, sucht er zuerst nach der jeweiligen Darstellung davon:

    " Es muss eine Freude gewesen sein, zu machen, auszuholen, Kurven zu ziehen, in der Formenzeit der Romanik, eine Freude fast bis hin zum Schmerz. "

    Im kastilischen León fragt er sich, warum man "bei uns", also in Österreich und Deutschland, die nackten Steine der Romanik nicht "ausgehalten" habe, man habe sie verputzt und "gefärbelt" - ein Wort wie "gefärbelt" findet sich hier wie organisch ein, Handke horcht den einzelnen Wörtern nach, und in diesem Nachhorchen entstehen unwillkürlich neue Worte, die dem Nachhorchen entsprechen. Die Wurzel Jesse, die immer neuen Formen des Wurzelwerks und der Flechten bis nach oben, bis zu den Darstellungen des Göttlichen: er sieht hier eine Verbindung zu seiner eigenen Ästhetik. "Die Wiederholung" ist ein Leitmotiv für ihn, er hat 1986 ein Buch mit diesem Titel veröffentlicht und einige Jahre später ein kleines Bändchen mit "Phantasien der Wiederholung" hinterhergeschickt. "Wiederholungen schaffen Raum für die Seele", sagt er einmal: Es geht um einige wenige Schlüsselsituationen, um Grunderfahrungen, aber sie werden immer wieder neu betrachtet und nachempfunden, so dass jedes Mal eine andere Facette dazukommt. In der romanischen Kunst findet er die Urform dafür: die Romanik ist für ihn "das Abenteuer der Varianten in der Wiederholung".

    Auf seinen mehr als zwei Jahre währenden Reisen, bei denen diese Aufzeichnungen entstehen, stellen sich auf ähnliche Weise charakteristische Wiederholungen ein, und sie wirken so, als könnten sie die Formen der romanischen Kunst in ein zeitgenössisches Bewusstsein übersetzen:

    "Vor den glänzenden nassen dunklen runden Felsen am schottischen Atlantik: die Buddhas aus Japan kehren zurück, und vor den Neonröhren, eher blass-stumpfen, vertikal von der Bardecke herabhängend: die Neonröhren des Cafés Neos Kosmos, Neue Welt, von Larissa in Griechenland kehren zurück. "

    Der Weg zum Portal der Kathedrale von Amiens in der Picardie, eine "leicht abschüssige Bahn", erinnert ihn an die "ebenso abschüssige Mündung des rio Douro bei Porto in den Atlantik", die er neun Monate vorher gesehen hat. Diese Wiederholungen, diese gleichgerichteten Empfindungen kommen beiläufig, sie sind nicht erzwungen, und gelegentlich scheinen sie den Schreiber selbst zu überraschen, wie einmal in Portugal:

    " Wiederkehr des Alaskahimmels jetzt mit seinen weitgeschweiften haarfeinen Wolken im Marmortischmuster eines Cafés von Coimbra. "

    Schreiben - das ist für Handke vor allem eine Sehnsucht. In einer kurzen Selbstreflexion sagt er einmal, dass er eigentlich nie schreiben konnte, im Sinne von Können: sein einziges Talent sei seit jeher die Sehnsucht gewesen. Handke möchte die Dinge zum Sprechen bringen, und zwar in ihrer Ursprünglichkeit, in ihrem Unangetastetsein. Immer wieder fragt er nach den richtigen Worten. Zwischen all den Notizen über Beobachtungen, Wanderungen, Natur- und Vorstadtszenerien stehen alle paar Seiten Bemerkungen wie:

    " Verb für die Sehnsucht: "zweigt ab". - Zweigt ab die Sehnsucht, wird Raum. "

    Auf diese Weise fallen Handke viele Verben ein: für die Bewegung von Glyzinienblütenbüscheln etwa "torkeln", für die Freude: "kommt dazwischen", für die Klavierweisen von Eric Satie: "lassen klingen". Oder für die Augen der Kinder: "kommen entgegen". Und einmal findet er auch ein Adverb, für den Flug der Schwalben: es heißt "fernhin".

    Eine weitere Spracherforschung unternimmt er mit dem Bindewörtchen "und". Damit verknüpft er zwei Momente, die für ihn zusammengehören sollen und in dieser Verbindung poetisch werden:

    "- Das Geräusch von trippelnden Tauben im Kies und das Geräusch eines beginnenden Regens.

    - Die Steinchen in den Sohlenrillen meiner Schuhe und die Weintrauben in den Schnäbeln der romanischen Tauben. "

    Handke sieht das Schreiben als ein Handwerk an. Wenn er einmal einen richtigen Handwerker antrifft, einen, der diese Bezeichnung noch verdient, ist er für ihn die höchste Verkörperung der Poesie. Ein "Wanderscherenschleifer" in den Pyrenäen, bei dem er seine verrostete Reiseschere wieder zum Glänzen bringen lässt, taucht wie eine alte Märchenfigur auf, Handke feiert die Kunstschmiede in Kairo und hat einen besonderen Blick für die Schuster, die in südlichen Ländern bis in den späten Abend in ihren Nischen sitzen. Wir begegnen in diesen Aufzeichnungen auch wieder dem "Schuhputzer von Split", dem Helden einer kleinen Prosaskizze, die Handke bereits 1987 in dem schmalen Band "Noch einmal für Thukydides" veröffentlicht hat und die zu seinen schönsten Stücken überhaupt gehört:

    "Meine Schuhe glänzen jetzt noch vom Geputztwerden damals im Hafen von Split; wenn ich mit dem Tuch drüberfahre, erscheint der Glanz von damals, viereinhalb Monate danach, am Fuß der Montagne Sainte-Victoire. "

    Handke liest während dieser Reisen, während der Zeit dieser Notizen Hölderlin, Novalis, Dante, Tschechow, die Bibel und noch andere klassische Texte, er knüpft daran immer wieder kurze Gedanken und stellt eine Beziehung zu seiner eigenen Ästhetik her, die sich immer wieder ein bisschen verändert und nach neuen Fragen verlangt. In einer Sentenz über die Romantik taucht einer seiner Lieblingsbegriffe auf:

    " Romanik: so viel Zwischenraum war nie."

    "Zwischenraum": hier hält sich Handke mit Vorliebe auf, dies ist der Ort seines Schreibens. Manchmal sagt er auch "Durchlass" dazu. Was er damit meint, wird ständig umkreist:

    "Der Staunende sieht, was anders ist; der aufhört, zu staunen, sieht nur noch, was gleich ist; nein, er sieht nicht einmal das Gleiche, er hört überhaupt auf zu sehen; registriert nur noch; oder so: wer nicht mehr staunt, der hat die Zwischenräume, oder Durchlässe, verloren. "

    Es geht immer um einen möglichen Übergang, es geht um die Möglichkeit, sich überraschen zu lassen. Handke ist ein "Augenblickdenker", wie er einmal sagt: das Starre, von vornherein Festgelegte lehnt er ab. Doch aus den einzelnen Augenblicken heraus entfaltet sich wie von selbst oft eine ganze Geschichte, ja: die Geschichte. Deswegen hat Handke auch eine Vorliebe für "Schwellen": für Türschwellen, aber genauso für die abstrakte Vorstellung davon. Sie gehört der Sphäre der Zwischenräume an. Es gibt ein schönes Beispiel für dieses "Schwellen"-Bewusstsein bei Handke, wie so oft verdichtet sich dabei alles in einem einzigen Halbsatz:

    " Schwelle im Jahr: erstes Kirschkernausspucken (30. Mai, Brazzano)"

    Am weitesten weg ist der Schreiber Handke in Japan. Das Fremde ist im Bewusstsein immer gegenwärtig. Hier fallen ihm die Spatzen auf, sie dienen ihm in gewisser Weise als Halt: in den Spatzen, in den unscheinbarsten Vögeln, verkörpert sich ihm die Welt, sie sind überall, und er hofiert sie immer auf dieselbe Art, ob sie nun im kargen schottischen Hochland auftauchen oder mitten in Tours an der Loire. Als er Japan verlässt und wieder im alten Europa ankommt, nimmt er das Vertraute neu wahr. Er hält sich zunächst wieder an die Spatzen, aber dann fällt auf, wie sich sofort Kindheitsbilder dazwischen schieben:

    " Im Finstern des Vormorgens jetzt das Schrillen der ersten Spatzen: den Atem anhalten, um ihnen mitten im Autolärm in mir Raum zu schaffen; und so höre ich dann die vielstimmigen Kehllaute als die Kiesel, die wir einst über den zugefrorenen Teich da und dort warfen, Faustvoll um Faustvoll, und zugleich entsteht in mir Raum für die unhörbaren, anbrausenden Meerwellen, rührt wieder der Schmetterling den Staub vor der Karsthöhle auf, welche als Geräteschuppen dient und vor welcher ein Pferd still steht. "

    Die Karsthöhle: sie wird von Handke immer wieder aufgesucht. Sie steht für die Kindheit, sie ist ein Sehnsuchtsbild, und die Erinnerungen an die Kindheit verschmelzen mit der ästhetischen Suche nach den ursprünglichen Formen in der romanischen Kunst. Wenn es einen Ruhepunkt in dem zweieinhalbjährigen Umherschweifen gibt, von dem dieses Buch zeugt, dann ist es die Karstlandschaft. Dorthin kehrt Handke am häufigsten zurück. Zwischen dem italienischen Teil, im Friaul, und dem slowenischen Teil macht er keinen Unterschied, auch wenn die politischen Grenzen damals noch weitaus schärfer gezogen waren als heute. Und die slowenischen Anteile Kärntens bezieht er auch in seine ideale Karstlandschaft mit ein, sie ist das Ideal von Heimat. In den Wanderungen um den Wocheiner See, um Bistrica und Sezsana und Lipica, beim Schwimmen im See von Doberdob oder im Fluss Judrio ist er am ehesten zuhause.

    " Und jetzt am Morgen der Berg- und Talverlauf des Ziegeldachfirsts gegenüber, und das wunderbare Grün, Gelbgrün der alten slowenischen Fensterrahmen und der Fensterbänke, und unter all den parallelen die eine schräge Sprosse der Leiter an der Hofmauer, und der abgeerntete Kartoffelgarten, aus dem ein paar hohe Rosen - Mörike - "vorleuchten" - alles zählt in diesen doch so einfachen, schlichten, aufwandslosen Augenblicken, auch der Plastikabfallkorb neben dem Waschbecken hier im Zimmer, das Rollmuster an den hohen geweißten Wänden, die eine Lade unten am Schrank (Kasten), der Holzstoß draußen unter dem Weinstock, das Fransendeckchen innen auf dem runden Tischchen, die Garderobenhaken, die Einkerbungen innen an der Kastentür ("Cvetka, Zoran, 1981"); die Bettdecke mit dem Bild des Gitarrenspielers - eingetaucht in die Traumzeit - Jugoslawien das Gegenland zu Hofmannsthals Deutschland in den "Briefen des Zurückgekehrten", wo kein Ding mehr wirklich war. "
    Jugoslawien ist das Gegenland, hier ist die Traumzeit, hier sind die Dinge noch "wirklich" - es ist die Möglichkeit der Kindheit, die Handke hier erkennt und evoziert. Alle politischen Äußerungen von ihm, die Jugoslawien betreffen, haben hier ihren Ursprung. Er spricht nicht in erster Linie von Serbien oder von einem Staat, dessen Präsident einmal Slobodan Milosevic hieß, er spricht von einem Traumland der Poesie. Als er es am Anfang des Reisedaseins, im Herbst 1987, verlässt und nach Griechenland kommt, stellt er als erstes fest:

    " Plötzlich zeigen wieder alle Leute stolz ihre Uhren vor. "

    Jugoslawien ist die Karsthöhle, es ist für Handke die poetische Landschaft schlechthin. Sie hat mit Politik nichts zu tun. Dennoch gibt es eine merkwürdige Vorahnung in diesem Buch, im Herbst 1987:

    ""Gott, bewahre uns vor einem nationalen Aufbruch!" Das dachte ich heute im makedonischen Zug beim Lesen der frühen Gedichte von Hölderlin. "

    Aber er liest Hölderlin natürlich weiter. Hier ist etwas Widersprüchliches zu spüren, das Handke nie vollständig aufheben kann, und vermutlich will er das auch gar nicht. Es gibt eine Stelle, an der er darüber nachdenkt, dass Hölderlin überwunden werden müsse, genauso wie Kafka - dagegen stehe nur Goethe. An Goethe sei nichts zu überwinden. Der sei einfach "nur da, rein da". Das entspräche dem Lebens- und Literaturgefühl, das sich Handke zu erschreiben versucht. Doch es fällt auf: Sein Ideal ist zwar Goethe - aber er schreibt von diesem Ideal im Duktus Hölderlins. Er schreibt unter vibrierender Hochspannung - von der Harmonie. In Handkes Beschwörung des Ursprünglichen, des Reinen, des Handwerklichen liegt ein Pathos, das mit Goethes Austarieren der Weltläufte nichts zu tun hat. Es gibt viele Imperative in diesem Buch, die er an sich selbst richtet: sie drehen sich fast alle darum, wie man schreiben solle. Handke liebt auch sehr die apodiktischen Wendungen, er liebt den Ausschließlichkeitscharakter - die Ruhe, nach der er sich so sehnt, die Gelassenheit, die Geduld: sie steht im Gegensatz zu seinen furiosen, unbedingten Forderungen. Selbst in den schlichtesten, poetischsten Beschreibungen Handkes gibt es einen Unterstrom, der die Schlichtheit und die Poesie zunächst kaum merklich mit erfasst. In Handkes Schreiben liegt immer auch eine latente Aggression. Man kann sie spüren, wenn er bei der Erinnerung an die Karstwildnis und an einen feingemaserten slowenischen Tisch das Wort "heilig" benutzt:

    " Ja, es gab, es gibt noch jene Welt, von der man, nach Hölderlin, "heilig" sagen kann, und es gibt die heilige Zeit"

    Da gibt es immer etwas Hochfahrendes, etwas Reizbares und Erregbares. Und von da aus ist es nicht mehr weit bis zu einer Art heiligem Zorn. Das Wort "Zorn" fällt häufig in diesen Aufzeichnungen, und es ist durchaus positiv besetzt. Handke stellt ihn gegen die "Wut", die ohnmächtig ist. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass Handke hier die Poesie mit demselben Zorn verteidigt, mit dem er andernorts auch Milosevics Serbien verteidigt hat. Er nennt auch einmal einen Grund:

    " Zorn ist eine Art Liebe (darauf bestehe ich)"

    Die Zerstörung der Kindheit ist für Handke die Zerstörung der Welt, und an diesem Punkt hört er auf, nachzudenken. Wenn die Dinge von früher verschwinden, ist er erfasst von einer Urtrauer. Das jüngste Beispiel ist das Vertrocknen der Flussteiche, der "Quellaugen" in der spanischen Mancha, der "Tablas de Daimiel", das er in einem Atemzug mit dem jugoslawischen Bürgerkrieg nennt. Hier befällt ihn ein namenloser Zorn, ein beinahe kindlicher Zorn. An die Haltung eines Kindes erinnert vieles, wenn Handke an solche Stellen kommt, wenn die Welt von früher nicht mehr existiert, und das ist kein Zufall. Kinder sind für Handke im höchsten Sinne poetisch, er kommt immer wieder darauf zurück. Mit den Augen des Kindes möchte er die Welt sehen. Es gibt erhabene Momente, in denen er die Augen der Kinder beschwört und sie als "die kostbarsten aller Perlen" bezeichnet. Für sein Schreiben hat das den unmittelbarsten Einfluss. In seinem Buch "Mein Jahr in der Niemandsbucht" ist er, nach den Jahren des Reisens, in das Haus in Chaville eingezogen, und er fühlt sich gewaltig gestört durch das laute Rasenmähen des Nachbarn. Er kann sich darüber gar nicht mehr beruhigen - bis er den Bleistift herausholt und mit ihm gegen den Rasenmäher anschreibt. Und so unglaubwürdig es klingen mag: es gelingt ihm. Die Poesie wirkt gerade in ihrer Unbemerktheit. Und das hat vieles gemeinsam mit einem kindlichen Trotzglauben.

    "Die Kunst ist die Form des Kindlichen" - so absolut sagt Handke das in diesen Notizen, und er begründet es damit, dass das Kindliche "nicht ideologisierbar" sein könne. Ob das wirklich stimmt? Auf jeden Fall ist hier der ganze Handke enthalten - derjenige der Poesie wie auch derjenige der Politik, und er weiß wohl, dass diese Bereiche nie zusammenkommen werden.

    " Die Kinder treten vor das Haus in die Sonne, und es fängt an, zu schreiben. "