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Notizen eines Weltbürgers

Ryszard Kapuscinski hat den Auslandsbericht zur Kunstform erhoben. Seine literarischen Reportagen sind gezeichnet von Abenteuerlust und zugleich durchtränkt von Geschichtsphilosophie. Kapuscinski habe zwölf Mal in Kriegen an vorderster Front gekämpft und vier Mal kurz vor der Hinrichtung gestanden, vermerkt seine Internetseite. Häufiger noch wurde er mit Gastprofessuren und Ehrendoktorwürden bedacht.

Von Martin Sander | 08.02.2007
    Ursprünglich hatte Kapuscinski Geschichte an der Warschauer Universität studiert. In den späten fünfziger Jahren begann seine Karriere als Auslandskorrespondent. Bis Ende der siebziger Jahre reiste Kapuscinski durch Asien, Afrika und Lateinamerika - und schrieb für polnische Wochenzeitschriften und für die staatliche Presseagentur. Internationalen Ruhm trugen ihm zwei Reportageromane ein: "Der König der Könige" zum Sturz des äthiopischen Kaisers Haile Selassie, und "Schah-in-Schah" über die Revolution im Iran. Der Reporter war meist zur rechten Zeit am rechten Ort, um die Entstehung der Dritten Welt infolge der Entkolonialisierung zu beschreiben. Dabei wich seine anfänglich sowjetkonforme Begeisterung für die Befreiungsbewegungen Afrikas und Lateinamerikas allmählich einer tiefen Skepsis gegenüber der Realität in den diktatorisch regierten unabhängigen Staaten. 1980 schlug sich Kapuscinski auf die Seite der polnischen "Solidarnosc"-Opposition und trat nach fast drei Jahrzehnten Mitgliedschaft aus der kommunistischen Partei aus. Das Kriegsrecht, verhängt durch General Jaruzelski am 13. Dezember 1981, beendete seine Karriere als Auslandskorrespondent des Regimes. Kapuscinski betrat neue Wege, auch literarisch.

    " Ich war am Ende mit meinem Reporterhandwerk, dem ich vorher geradezu automatisch nachgegangen war: Abfahrt, Rückkehr, nächstes Thema, nächste Weltgegend. Damit war auf einmal Schluss. So begann ich, mir aus Gründen der Seelenhygiene verschiedene lose Notizen zu machen. Diese Form des Fragments entspricht mir irgendwie. "

    Diese Aufzeichnungen, eine Art Arbeitsjournal, blieben zunächst unveröffentlicht. Erst nach der Wende von 1989 erschienen sie in insgesamt fünf Bänden unter dem Titel "Lapidarium". Als "Notizen eines Weltbürgers" hat der Eichborn Verlag jetzt Band IV und V in deutscher Übersetzung vereint.

    Die Aufzeichnungen sind nur selten datiert. Als ungefährer Zeitrahmen lassen sich die Jahre von 1997 bis 2002 bestimmen. Vor dem Leser wird ein wahres Sammelsurium von Textsorten ausgebreitet. Der Autor zitiert aus seiner Lektüre wissenschaftlicher Bücher oder aus der internationalen Tagespresse. Er präsentiert Gedankensplitter zu aktuellen politischen und wissenschaftlichen Debatten, eigene Thesenpapiere für Vorträge, allgemeine Betrachtungen zur Weltlage, Reiseeindrücke und nicht zuletzt Alltagsbeobachtungen aus unmittelbarer Nachbarschaft.

    " In der Tramway Nr. 15, die nach Ochota fährt, kommt es zu einem Streit.

    "Was drängeln Sie so, gute Frau?! Sie könnten sich wenigstens entschuldigen!"

    "Ich? Entschuldigen? So ein Bauernlümmel!"

    "Bauernlümmel? Sie sind es, der das Stroh noch aus den Stiefeln schaut! Meine Familie war schon im 14. Jahrhundert in Warschau gemeldet ..."

    Wenn jemand in Warschau einen Menschen wirklich verletzen, lächerlich machen und niederträchtig behandeln möchte, dann reibt er ihm seine bäuerliche Herkunft unter die Nase. Für die Bewohner dieser Stadt gibt es keine schlimmere Beleidigung, Missachtung und Ohrfeige, als daran erinnert zu werden, dass der Großvater aus dem Dorf gekommen ist - was übrigens auf 90 Prozent der Menschen hier zutrifft! Was für ein unerträglicher Komplex, was für eine arrogante Verachtung der eigenen Wurzeln, die man um jeden Preis verbergen, noch tiefer im Boden vergraben möchte. "

    Hinter solchen Alltagszenen verbirgt sich der scharfe Blick des Ethnologen. Die Zusammenhänge von Unterdrückung und Emanzipation, von Entwicklung und Rückständigkeit nehmen in Kapuscinskis Aufzeichnungen einen zentralen Platz ein. Es geht dabei um die so genannten Tigerstaaten des fernen Ostens, um die Länder Schwarzafrikas, aber auch um sein Heimatland Polen, das - wie der Autor dem Leser bedeutet - aufgrund seiner Jahrhunderte währenden und erst unlängst beendeten Fremdherrschaft manchen geradezu postkolonialen Komplex aufweist. Ebenso wie Kapuscinskis glanzvolle Reportagen sind also die "Notizen eines Weltbürgers" dazu geeignet, unser womöglich einseitiges Bild von der Welt zu korrigieren. Immer wieder handeln die Textstücke vom Eurozentrismus, der den Blick auf die wahren Probleme unserer Zeit verstelle. Denn in Wirklichkeit stellten heute weder die Rüstungswettläufe, noch der im Gefolge von Samuel Huntington gern beschworene Kampf der Kulturen das wirkliche Problem dar. Vielmehr gehe es immer noch und immer wieder um die gigantische weltweite Ungleichheit, eine Ungleichheit vor allem innerhalb von Kulturkreisen. Kapuscinski spricht vom bitteren Nachgeschmack des antiimperialistisches Kampfes in der Dritten Welt. Er führt die Korruption und blutige Gewalt in den dortigen Ländern vor Augen. Er liefert aber auch eine Kritik jener Ethnopolitik, mit der die internationale Staatengemeinschaft Bürgerkriege zu befrieden sucht, wie im ehemaligen Jugoslawien. Dabei genügen ihm Stichworte.

    " Ein neuer antirassistischer Rassismus: die Beseitigung von Spannungen und ethnischen Konflikten, indem man die jeweiligen Parteien physisch und rechtlich trennt, indem man faktisch eine Art von Apartheid einführt. "

    Mit den entwickelten Demokratien des Westens geht Kapuscinski ebenfalls ins Gericht. Er geißelt ihre Neigung zum reinen "Konsumismus", die Passivität ihrer Gesellschaften, ihre von Verantwortungslosigkeit - nicht selten auch von Korruption - infizierten politischen Eliten.

    Ein in seiner Verdichtung eindrucksvolles Porträt liefert Ryszard ?Kapuscinski von Gerhard Schröder vor der Bundestagswahl 1998.

    " Er kam zu meinem Vortrag über Russland. Er strahlte große Energie aus, eine innere biologische Kraft, eine unermüdliche, rastlose Triebkraft. Durchschnittliche Menschen scharen sich um solche Gestalten, weil ihnen diese die beruhigende Gewissheit verleihen, sie würden "es schon schaukeln!". Er wird es für uns und, was mindestens ebenso wichtig ist, an unserer Stelle schaukeln.

    Schröder ist gut gebaut, elegant (ein diskretes, doch sichtbares Make-up), mit den Bewegungen eines selbstsicheren Menschen, der soeben einen Sieg errungen, etwas erreicht hat. Er war nur für eines zugänglich: für die Bitten, Zurufe, ja Anweisungen der Fotoreporter und Kameraleute vom Fernsehen. Auf ihren Befehl stellte er sich seitlich hin, dann wieder en face, einmal sah er ernst drein, dann nachdenklich, und schließlich lächelte er, genau so, wie ihn die knipsende und drängende Meute in ihren Objektiven sehen wollte. Ein ideales, williges und fotogenes Objekt. "

    Es ist eine beachtliche Anzahl überaus disparater Textsorten, mit denen Ryszard Kapuscinski seine "Lapidarien" bestückt hat. Es herrscht kreative Vielfalt, und der Autor hat ihr einen tieferen Sinn verliehen.

    " Wenn wir den Gang unserer Gedanken analysieren, stellen wir fest, dass wir nicht in Geschichten denken, wir denken nicht in Kontinuitäten. Unser Denken ist zerteilt, in einer Sekunde denken wir über etwas nach, wenige Sekunden später über etwas ganz anderes. Unsere Gedanken springen, unser Denken ist fragmentarisch. Und das ist auch die Form und die Technik des "Lapidariums". Eine lose Sammlung in der Form einer Collage von sehr unterschiedlichen Dingen, so wie unser Denken. "

    Das klingt gut. Und es wirkt - hat man die 300 Seiten der hier vorgelegten "Lapidarien IV und V" (auf deutsch: "Notizen eines Weltbürgers") durchgelesen - doch ein wenig nach einer Motivation im Nachhinein. Bei allem Respekt vor der Fragmentierung unseres Denkens, bei aller möglichen Lust am intellektuellen Puzzle, die Komposition von Kapuscinskis Bruchstücken fördert die Spannung nicht unbedingt. Im Vergleich zu den großen Reportagebüchern des Autors werden die hohen Erwartungen möglicherweise nicht erfüllt. Zu entdecken gibt in diesen "Notizen eines Weltbürgers" gleichwohl genug. Man sollte darin blättern und das Beste herauslesen.

    Ryszard Kapuscinski:
    "Notizen eines Weltbürgers"
    (Eichborn Verlag)