Ausstellung "Wildnis" in der Frankfurter Schirn

Romantische Täuschungen

Henri Rousseau, Le lion, ayant faim, se jette sur l'antilope, 1898 – 1905, Öl auf Leinwand, 200 x 301 cm, Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Sammlung Beyeler.
Fiktionen von Wildnis: Henri Rousseau, Le lion, ayant faim, se jette sur l'antilope. © Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Sammlung Beyeler, Foto: Robert Bayer, Basel
Von Rudolf Schmitz · 31.10.2018
Wie real sind die künstlerischen Vorstellungen von der sogenannten Wildnis? Die Bilder und Skulpturen in der Ausstellung "Wildnis" in der Frankfurter Schirn zeigen: Sie sind oft Projektionen, die mit der Realität nur wenig zu tun haben.
Hundert Jahre liegen zwischen dem naiven Maler Rousseau und seinem Löwen, der sich in lieblichem Urwaldambiente auf eine Antilope stürzt, und der Fotografie des brasilianischen Regenwaldes von Thomas Struth. Mit dieser Eröffnungskonstellation stellt die Schirn Kunsthalle die entscheidende Frage: Wie real sind unsere Vorstellungen von der sogenannten Wildnis?
"Und tatsächlich ist die Idee dieses Raums auch zu zeigen, wie sehr Bilder, Vorstellungen von Wildnis von Anfang an im Bereich des Imaginären angesiedelt sind, mit Projektionen, mit Fiktionen, mit Sehnsüchten zu tun haben."
Gerhard Richters fotorealistisch verschwommener Tiger, der aus dem Bild zu schleichen scheint, ist ein echter Papiertiger: Er entstammt dem Blätterwald der Boulevardpresse. Wildnis zwischen Schein und Sein – das ist die Leitidee der gesamten Ausstellung. Kuratorin Esther Schlicht:
"Da gibt es ja auch diesen ganzen Diskurs um das Anthropozän, der von der Erkenntnis her gespeist wird, dass letztendlich jeder Winkel, bis in die entlegenste Gegend unseres Planeten ja eigentlich von menschlichem Handeln schon transformiert ist, und das Unberührte ja im Grunde nirgendwo mehr ist. Und auf der anderen Seite: Ob man jetzt ins Fernsehen schaut, in diese Unmengen an Wildlife-Sendungen, ob man diese ganzen neuen Entwicklungen von Extremsport anschaut – es scheint ja diese Sehnsucht nach Wildnis größer zu sein denn je."

Gebirgslandschaft entpuppt sich als Baustellen-Erde

Die frühen Fotografien der Gebrüder Bisson von 1861 zeigen Alpenpanoramen, Gletscherströme, wie es sie heute kaum noch gibt. Damals veranschaulichten diese Bilder die Idee des Erhabenen in der Natur. Mit seinen Fotos von 2011 scheint Julian Charrière Bezug darauf zu nehmen:
Julian Charrière, Panorama 52° 29' 50.88" N 13° 22' 19.37" E, 2011, C-print on Alu-Dibond, 100 x 150 cm, Courtesy André Schlechtriem.
Gebirgslandschaft aus Erdmassen einer Baustelle: Julian Charrière, Panorama 52° 29' 50.88" N 13° 22' 19.37" E, 2011.© Julian Charrière & VG Bild-Kunst, Bonn 2018
Auch hier nebelverhangene, schneebestäubte Gebirgslandschaft. Doch der Künstler hat sich nur die Erdmassen einer Baustelle in Berlin zunutze gemacht, sie mit Feuerlöscher und Nebelmaschine traktiert, um sie dann in romantische Augentäuschung zu verwandeln. Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts von Carleton E. Watkins fotografierten Ansichten des amerikanischen Yosemite-Tals jedenfalls sorgten seinerzeit für eine regelrechte Natur-Euphorie.
"Also diese Bilder von Watkins waren mit ausschlaggebend dafür, dass dann in den Jahren danach Yosemite tatsächlich auch unter Naturschutz gestellt wurde und zum Nationalpark dann später erklärt wurde. Das markiert den Punkt, wo plötzlich ästhetische Kategorien auch für die Definition von Wildnis ausschlaggebend werden."
Blick in die Ausstellungsräume der Schirn Kunsthalle. An der Wand im Hintergrund hängt Henri Rousseau, Le lion, ayant faim, se jette sur l'antilope, 1898 – 1905.
WILDNIS in der Schirn Kunsthalle Frankfurt - Blick in die Ausstellung.© Wolfgang Günzel
Bei den Surrealisten Richard Oelze und Max Ernst bricht dann der innere Urwald hervor: Schlinggewächse, Vogelwesen als Ausstülpungen des Unbewussten. Naturwillkür als Reaktion auf den barbarischen Zweiten Weltkrieg. Die in kreischenden Farben gehaltenen Tierwesen der Künstlergruppe CoBrA frönen dann ab den frühen 1950er Jahren einem fast kindlichen Exotismus.

Kluge Skepsis gegenüber falscher Romantik

"Und das ist etwas, was in der Kunst des 20. Jahrhunderts immer wiederkehrt: Die Suche nach einer Art elementaren Ausdrucksform, sich zu befreien von Konventionen, von Normen, diese Grenzüberschreitung, die ein ganz zentrales Thema der Kunst selber auch wird. Das zeigen wir auch anhand einer konzentrierten Gruppe von verschiedenen Werken von Cobra-Künstlern, die vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs und dieser Suche nach einem Neuanfang so eine Art vorkulturellen Zustand gesucht haben."
Ein ergiebiges Thema, diese Suche nach dem Vorkulturellen, Ursprünglichen, Archaischen. In den 1960er Jahren gibt es Künstler wie Richard Long, den Landschaftswanderer, der mit Stöcken oder Steinen skulpturale Zeichen in der Natur hinterlässt. Die Werke des 21. Jahrhunderts schließlich inszenieren vornehmlich künstliche Natur.
Jacob Kirkegaard zum Beispiel ist nach Grönland gereist, hat dort Känge von schmelzendem Eis aufgenommen, sie schließlich zur Klangkulisse eines in pinkfarbenen Nebel getauchten Raums gemacht. Mischformen wie diese, von äußerster Künstlichkeit und realer Naturerfahrung, machen Wildnis zu einer hybriden Konstruktion. Und sind damit der gelungene Endpunkt einer Ausstellung, die kluge Skepsis gegenüber jeder Form von falscher Romantik verbreitet.