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Novelle von Andrzej Bart
Eine graue Maus wird zur Täterin

Die Verfilmung der Novelle "Der Revers" bekam vor fünf Jahren unzählige Preise und wurde zum Oscar-Kandidaten. Jetzt liegt das Werk des polnischen Schriftstellers Andrzej Bart unter dem Titel "Knochenpalast" auf Deutsch vor. Es führt unter anderem vor Augen, wie schnell scheinbar "normale" Menschen zu Mördern werden können.

Von Marta Kijowska | 30.06.2014
    Eine Chemieglasflasche mit einem Aufkleber für "giftig" und einem Totenkopf-Symbol
    Als ein Fremder einen Angriff auf ihre Familie wagt, halten Mutter und Tochter zusammen und beseitigen den 'Störfaktor' kühl. (picture alliance / dpa - Fredrik Von Erichsen)
    Warschau, Anfang der 50er-Jahre. Irgendwo in der Innenstadt, in einem der wenigen unzerstörten Häuser, lebt Sabina, eine junge, unscheinbare Verlagsangestellte. Sie strotzt nicht gerade vor Lebensfreude, als unglücklich kann man sie aber auch nicht bezeichnen. Sie teilt sich mit ihrer Großmutter und ihrer Mutter eine schöne Wohnung, ihre Arbeit macht ihr Spaß, die eigene Schallplattensammlung sorgt für abendliche Zerstreuung. Und selbst wenn sie etwas vermissen sollte, sie erwartet ohnehin nicht mehr, dass sich an ihrem Schick¬sal etwas ändern könnte – der tägliche Blick in den Spiegel beraubt sie der letzten Illusionen.
    „Sieht sie so aus? Man möchte glauben, dass nur der angeborene Mangel an Selbstvertrauen ihrer Schönheit Abbruch tut, denn eigentlich hat sie feine Gesichtszüge. "Versuch doch, mehr zu lachen", sagt Oma immer. "Dann schauen dich die Jungs gleich anders an." Der Großmutter soll man glauben, also lächelt Sabina gehorsam. Eigentlich sieht sie keine Veränderung, auch wenn das Lächeln sie tatsächlich jünger macht. Sie ist neunundzwanzig und überzeugt, dass mit dreißig ihre Jugend unwiderruflich vorüber sein wird."
    Die beiden älteren Frau versuchen beharrlich, für Sabina einen Ehemann zu finden, was diese zwar geduldig über sich ergehen lässt, dabei aber nur für zwei Männer schwärmt: ihren Vorgesetzten, den charmanten Verlagsdirektor Barski, und ihren Bruder Arkadiusz – einen begabten Künstler, der die Zeit dennoch vor allem damit verbringt, in seinem Dachatelier überdimensionale Porträts stalinistischer Würdenträger zu produzieren.
    Spätestens wenn Arkadiusz den Plan betritt, dürfte sich bei Lesern, die Barts früheres Werk kennen, ein kleines Déjà-vu-Erlebnis einstellen. Man beginnt sich plötzlich zu erinnern, dass man diesem jungen Maler schon irgendwo begegnet ist und dass er auch dort eine nicht sonderlich attraktive Schwester hatte. Ein Eindruck, der sich im Gespräch mit dem Autor als richtig erweist.
    "Die Hauptfigur von "Knochenpalast" erfand ich vor 30 Jahren, in einem ganz anderen Roman. Dort wurde diese graue Maus, die Verlagslektorin ist, keinen Mann findet und in stalinistischen Zeiten lebt, auf eine sehr harte Probe gestellt. Sie wurde nämlich gezwungen, ihre Freunde und ihren Chef zu denunzieren. Sie hielt dem aber nicht stand und beging Selbstmord. Es war ein sehr langer Roman, und ihre Geschichte nahm darin gerade mal drei Seiten ein. Doch dieses arme Mädchen wollte mir auch nach 25 Jahren nicht aus dem Kopf gehen. Also beschloss ich, sie zum zweiten Mal zu erfinden. Ich gab ihr ein neues Leben und ließ sie diesmal einen Sieg davontragen – in einem Staat, in dem ein Einzelner niemals siegte."
    Der Roman, von dem Andrzej Bart spricht, hieß "Rien ne va plus" und erzählte die Abenteuer eines Gemäldes, das etliche Häuser und damit 200 Jahre der polnischen Ge-schichte durchwandert. Bart versuchte damals, für jede Periode eine möglichst prägnante Metapher zu finden, und als er die ganze Entsetzlichkeit des Stalinismus zeigen wollte, hatte er eine besonders raffinierte Idee – die er nun in Knochenpalast erneut umsetzt:
    Er sorgt dafür, dass es Sabina gelingt, einem Dekret zu trotzen, das von den Bürgern die Abgabe von Gold und fremder Währung verlangt. Für den einzigen, alten Dollar, den die Familie besitzt, findet sie nämlich ein ideales Versteck – den eigenen Darm. Als sie die Münze zum ersten Mal verschluckt, wirkt es noch wie ein sorgfältig inszeniertes, von Puccinis Musik begleitetes Todesritual:
    "Die Arie erklingt mit voller Kraft. Die arme Butterfly eröffnet der Welt, dass sie diese verlassen wird. Sabina betrachtet die Münze, die für ihr Zuhause zum Problem geworden ist, dann nimmt sie sie nach kurzem Zögern in den Mund, als ob es sich um Gift handelte. Lange hält sie die Augen geschlossen, denn sie wird ja gleich sterben."
    Mutter und Tochter arbeiten zusammen
    Doch die erwarteten tödlichen Folgen bleiben aus, und seitdem wird die Münze mit solcher Routine geschrubbt, geschluckt und wieder ausgeschieden, als ginge es dabei ums Zähneputzen. Der Trick funktioniert so lange, bis in Sabinas Leben ein geheimnisvoller und blendend aussehender Fremder tritt. Sobald sie allerdings dem schönen Bronislaw – so sein Name – in die Arme fällt, stellt sich heraus, dass er einen erheblichen Makel hat: Er ist ein Agent des Geheimdienstes und will Sabina zu seiner Informantin machen.
    Zum Glück stammt sie aus einer Apothekerfamilie, als sie also im Medizinschränkchen eine kleine braune Flasche findet, ist Bronislaws Schicksal besiegelt. Den Rest tut ihre Mutter, die mithilfe des Weiteren Inhalts ihrer Hausapotheke und der Badewanne ihres Sohnes dafür sorgt, dass der Eindringling sich buchstäblich in Nichts auflöst.
    Jede Situation hat ihre zwei Seiten, wie eine Münze ihren Avers und ihren Revers. So ist es auch mit dem Leben der Helden dieser Novelle, die im Original "Der Revers" heißt.
    "Den Originaltitel würde ich einfach mit dem Begriff "Kehrseite der Medaille" erklären. Denn es geht um die Umkehrung, den Gegensatz jeder Situation. Wir haben einen Mann, der ein avantgardistischer Maler sein will, der die Kunstgeschichte kennt und der weiß, was er leisten könnte, und der statt dessen realistische, lächerliche Porträts stalinistischer Würdenträger malt und mit den Machthabern flirtet.
    Wir haben die Mutter, die seiner Zeit Angst vor dem Krieg hatte und die jetzt plötzlich die Leiche eines Mannes beseitigen muss, nachdem dieser es gewagt hat, die Hand gegen ihre Familie zu heben. Und wir haben Sabina, ein junges unschuldiges Mädchen, das sich gezwungen sieht, einen Menschen zu töten. Jede Situation hat also ihre zwei Seiten. Daher der polnische Titel.
    Und der deutsche Titel, Knochenpalast? Um den zu erklären, müsste man die Pointe der Geschichte verraten. Es sei also nur so viel gesagt: Eine plötzliche Radionachricht hilft der Familie, zu ihrem ruhigen Alltag zurückzufinden."
    Man hört die optimistische Stimme des Sprechers, der vom Baubeginn des Kulturpalastes redet, dem großen Geschenk des Generalissimus an die Polen. Er erzählt, wie viel Beton und Stahl verbaut und wie viel Marmor den Palast verschönern wird. Da hat Sabina plötzlich eine Eingebung.
    Ein Happyend also, wenn auch keins, das Sabina sich erträumt hat. Doch bei Andrzej Bart ist selten alles so, wie es sein sollte beziehungsweise wie es zu sein scheint. Es überrascht daher nicht, dass er bei der Gattungszuordnung seines Buches ein wenig zögert. Die Novelle werde zwar oft eine schwarze Komödie genannt, sagt er, doch damit mache man sich die Sache etwas zu einfach. Er würde jedenfalls die vielen dramatischen Momente nicht unterschätzen und das Buch eher als eine "weiße Tragödie" bezeichnen.
    "Das entspricht auch meiner Art, die Welt zu sehen. Das dramatischste Ereignis, das man sich vorstellen kann, wird für mich meist von einem bösen Kichern des Schicksals begleitet. Und umgekehrt: in der schönsten, romantischsten Situation, in der alle vor Glück weinen, sehe ich oft etwas Gespenstisches. So reagiere ich auch als Mensch – nicht nur als Schriftsteller. Daher meine Devise: 'Zeig mir, wie du bist, und ich sage dir, was für ein Schriftsteller du sein wirst.'"
    Andrzej Bart selbst ist vor allem ein raffinierter Schriftsteller. Einer, der oft mit literarischen Konventionen spielt und gern mit einer Wortschöpfung oder einer Handlungswendung überrascht. Etwa mit einer amüsanten Liebesgeschichte, bei der uns das Lachen plötzlich im Hals stecken bleibt.
    Andrzej Bart: "Knochenpalast"
    Aus dem Polnischen von Albrecht Lempp
    Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2014
    192 Seiten, 18.95 Euro