Donnerstag, 25. April 2024

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"Nozze di Figaro" in Wien
Das Theater als erotische Anstalt

Heimspiel für Mozarts Hochzeit des Figaro. Marc Minkowski und Felix Breisach haben "Le Nozze di Figaro" am Theater an der Wien neugedeutet. Der Regisseur und die Musiciens du Louvre machen das historisch fixierte Musikkomödientheater wieder zu einer erotischen Anstalt - im wahrsten Sinn des Wortes.

Von Frieder Reininghaus | 12.04.2015
    Die Musiciens du Louvre stellten neuerlich ihre spezielle - hoch entwickelte - Klangkultur unter Beweis, gediegenste elegische Momente, Spannungsbögen der Sehnsucht und elektrisierendes Brio.
    Pierre Caron de Beaumarchais war ein Mann, der das Leben aus verschiedenen Perspektiven kannte. Er war Uhrmacher, Harfenist, Musiklehrer der Töchter Ludwigs XVI., Kaufmann und Häftling, Waffenhändler und Top-Agent. Im kulturellen Leben von Paris reüssierte er als Autor von Sketchen insbesondere über vor- und außereheliche Liebe. Die Komödie, kommentierte er listig in der Vorrede zum "Tollen Tag", dem mittleren Stück seiner Figaro-Trilogie, gehe "nicht über die Missverhältnisse hinaus, weil ihre Bilder sich von unseren Sitten und ihre Gegenstände sich von der Gesellschaft herleiten".
    Nach dieser Anleitung verfährt nun Felix Breisach im Theater an der Wien. Die Bilder, deren Architektur und Rahmen Jens Kilian entwarf, leiten sich von therapeutischen Einrichtungen her. Die Krankengitterbetten älterer Bauart sind auf der Opernbühne zwar so wenig neu oder originell wie die in einem drehbaren gläsernen Zimmer in der Mitte der unteren Bühnenetage untergebrachte Couch-Ecke. Ihr Vorbild findet sich bis heute in der Wiener Berggasse Nr. 19. Die Art und Weise, wie Dr. Sigmund Almaviva als anmaßender Analytiker und ubiquitärer Spielleiter agiert, hat freilich Pfiff und verweist auf einige der von Beaumarchais angepeilten "Missverhältnisse" - nur eben nicht in den Verkehrsformen des späten 18., sondern im Ärztekittel und den "maximal transparenten" Therapie-Usancen des frühen 21. Jahrhunderts. Dabei erscheint nicht nur jede Handbewegung und das Minenspiel der Akteure minutiös gearbeitet, sondern geraten viele Episoden dekuvrierend und witzig. Der Womanizer mit dem hohen Sozialstatus dekonzentriert zum Beispiel, durch die gläserne Wand schauend, Susannas Gespräch mit dem Verlobten über die künftige Wohnungseinrichtung mit der Puppe, die er ihr wegnahm.
    Exquisite internationale Sänger-Crew
    Die Inszenierung spielt mit scheinbar unmotiviert eintretenden Verlegungen und Verdrängung von Handlungssträngen. Damit zielt sie auf Dekonstruktion der fortdauernd weithin so geliebten, aber höchst problematischen Mozart-Aura. In einer Welt voll Illusionen über die "wahre Liebe" fehlen Seifenblasen so wenig wie eine an der commedia del arte geschulte Buffo-Einlage von Peter Kálmán als Advokat Bartolo, der sich dann weiters auf die Lektüre des Fachmagazins "Hundewelt" konzentriert (da weiß man, was unverbrüchliche Treue ist!).
    Überhaupt verfügt die Produktion über eine telegene exquisite internationale Sänger-Crew. Stéphane Degout beglaubigt die in distinguierten Bahnen kanalisierte Obsession des keineswegs wirkungslosen Therapeuten Almaviva. Anett Fritsch bringt mit Stimme und Mimik die zwischen beleidigter Ehefräulichkeit und noch immer frischer Lebenslust changierende Contessa Rosina zur Geltung. Die als Siebzehnjährige aufbereitete Emöke Baráth stimmt mit traumhaftem Piano die Glückshoffnungen Susannas an, verrät aber auch die Nuancen eines nicht ganz ungestreiften Brautdaseins - großartig. Felix Breisach zeigt den von Da Ponte surrealistisch angelegten letzten Akt konsequent als eine Therapiesitzung und in ihr das verärgerte, ermattete, abgehetzte Alpha-Männchen, dem die Definitionsmacht entglitten ist.
    Der Regisseur und die Musiciens du Louvre mit ihrem virtuosen Hammerklavierspieler Luca Oberti* machen das historisch fixierte Musikkomödientheater wieder zu einer erotischen Anstalt, die im günstigen Fall ja auch ein Ort der Erkenntnis ist.
    *Anmerkung der Redaktion: In einer vorherigen Fassung dieses Textes war hier anstatt von Luca Oberti die Rede von Julien Vanhoutte, das ist jedoch nicht korrekt.