Zum Tod von Claude Régy

Das Schweben zwischen Sein und Nichts

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Porträt des französischen Theaterregisseurs Claude Régy
Claude Régy (1923–2019) machte "hypnotisches Theater", sagt Eberhard Spreng in seinem Nachruf. © AFP / Joël Saget
Von Eberhard Spreng · 27.12.2019
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Der französische Regisseur Claude Régy ist im Alter von 96 Jahren gestorben. Über sechs Jahrzehnte prägte er das europäische Theater als einer der wichtigsten Erneuerer – seine Arbeiten waren abstrakt und streng in der Form.
Ein Mann steht eineinviertel Stunden lang in bläulichem Dämmerlicht völlig bewegungslos auf einem Steg vor einer neblig-schimmernden Wand und spricht bedächtig, ja zerdehnt einen poetischen Text. Er entführt uns suggestiv ins Ungewisse, Unbekannte. Es ist wie eine Beschwörung, ein Theater-Voodoo. Nichts wird gezeigt, aber alles tritt dem Zuschauer auf der Bühne der eigenen Imagination vor Augen.
Visionen wie diese werden bleiben in ihrer radikalen Einmaligkeit. Claude Régy war Minimalist. Er hielt sich vom Spektakulären, von populistischer Theaterunterhaltung und einem platten Begriff des politischen Theaters immer fern und verstand sich als ein Entdecker neuer, noch unerprobter Theatertexte: "Ich suche in meiner Arbeit nach Essenziellem. Mich interessiert die Zeichnung, die Skizze, die das Wesentliche spürbar macht, ohne dass es verkörpert wird. Ich zeige also wenig, damit der Zuschauer selbst viel sehen kann."

Jenseits der simplen Bedeutungen

Claude Régys Augenmerk galt den Voraussetzungen von Theater, also dem, was als untergründiges Fundament dem Schreiben der Theaterstücke vorausgeht, und es ging ihm um einen Sinn jenseits der simplen Alltagsbedeutungen. Dabei sprachen seine Darsteller, ohne je so etwas zu verkörpern wie eine Theaterfigur, ihre Texte immer in gedehntem, langsamen Tempo, versponnen und oft leise, so als wäre die Sprache kein Instrument für die Verständigung über Gewissheiten, sondern ein sehr ungefähres, neu zu entdeckendes Terrain.
"Wenn die Schauspieler sich zu sicher fühlen und ihre Rollen perfekt verkörpern, wird etwas zerstört, was mir sehr wichtig ist. Die Aufführung muss eine gewisse Offenheit behalten. Sie darf in einer Stimmung des Unendlichen nicht zu einem Endergebnis kommen", sagte Régy einmal.

Interesse an zeitgenössischer Literatur

Geboren wurde Claude Régy 1923 in einer protestantisch-bürgerlichen Familie im südfranzösischen Nîmes. Sein Jura- und Politikstudium gab er bald auf, um in Paris unter anderem bei Charles Dullin und Michel Vitold Theaterkurse zu belegen. Sein Interesse galt von Beginn an der zeitgenössischen Literatur: Er hat sich insbesondere für die Stücke von Nathalie Sarraute und Marguerite Duras eingesetzt und galt als der französische Entdecker der englischen Gegenwartsdramatik von Harold Pinter, James Saunders und Edward Bond.
"Die zeitgenössische Literatur ist ein Spiegel unserer immer unvollständigeren Art zu sprechen. Das Wort und der Ausdruck erleiden Beschädigungen, und wir erleben eine Degenerierung der Sprache, die ganz neue Ausdrucksformen hervorbringt", sagte er in einem Interview.

Suggestiv minimalistische Bilderwelt

"Les Ateliers Contemporains", "Werkstätten des Zeitgenössischen" nannte Claude Régy die Compagnie, die er 1976 gründete. In dieser lockeren Struktur inszenierte er nach Peter Handke und Botho Strauß in den 1970er- und 80er-Jahren unter anderem Texte von Gregory Motton, David Harrower, Jon Fosse und Arne Lygre. Zu seinen seltenen Arbeiten fürs Musiktheater gehörten 1985 Luciano Berios "Passaggio" und zu Beginn der 1990er-Jahre "Die Meistersinger von Nürnberg" und Arthur Honeggers "Jeanne d'Arc au Bûcher".

Régys Version von Sarah Kanes "Psychose 4.48" (2002) mit der Filmschauspielerin Isabelle Huppert blieb auch deutschen Zuschauern in Erinnerung. Mit Maeterlincks "Intérieur" und Tarjei Vesaas "Boot am Abend" gastierte er in Wien. Ein Abdriften, ein Vergehen im nassen Element war da zu sehen, ein sich wiederholendes Motiv in Régys suggestiv minimalistischer Bilderwelt, an der Grenze zwischen dem festen und dem unsteten Element.

Radikaler Einzelgänger

Régys hypnotisches Theater bot letztendlich metaphysische Predigten, Anrufungen, die ihre Spiritualität allerdings jenseits der Religion suchten. Gleichwohl blieb die Erfahrung einer biblischen Spiritualität aus seiner Kindheit prägend. In völligem Dunkel sprach Marcial di Fonzo Bo 1995 die Neuübersetzung der biblischen "Paroles du Sage" – zu Deutsch: "Die Weisheit Salomos" – durch Henri Meschonnic.
Am Ende ließ sich ein matter Hauch von Licht ahnen. Niemand konnte je sagen, ob auch das kühle Halbdunkel, in das die Bühne in Régys Produktion immer getaucht war, als Dämmerung auf ein Weltenende verwies oder Zeichen für den Neuanfang war. Mit Claude Régy, dem kleinen Mann mit dem freundlichen runden Gesicht, starb ein radikaler, ein kämpferischer Einzelgänger, dessen Bühnenrituale ein Zwischenreich erkundeten, das Schweben zwischen Sein und Nichts.
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