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NS-Euthanasie-Mordzentrum
Die düstere Vergangenheit des Kalmenhofs

In der hessischen Stadt Idstein im Taunus wird eine großzügige Immobilie angepriesen. Keine Erwähnung in der Kauf-Anzeige findet die Vergangenheit des Gebäudes: Es diente den Nationalsozialisten als Euthanasie-Zentrum. Der Verkauf des Kalmenhofs wurde vorerst gestoppt. Jetzt soll geklärt werden, wieviele Menschen auf dem Grundstück verscharrt wurden.

Von Ludger Fittkau | 29.05.2017
    Fachwerkhäuser in Idstein
    Das beschauliche Idstein muss mit einem schweren historischen Erbe aus der Zeit des Nationalsozialismus klar kommen. (dpa / picture alliance / Fredrik von Erichsen)
    "Mein Name ist Gerhard Krum. Ich war zwölf Jahre lang Bürgermeister hier in Idstein."
    Bis 2013 war der 69-jährige, schmale Sozialdemokrat mit schneeweißen Haaren und Kinnbart Stadtoberhaupt der 25.000 Einwohner-Stadt am Nordwestrand des Rhein-Main-Gebietes. Heute engagiert es sich ehrenamtlich für den Kalmenhof, einer großen Behinderteneinrichtung der Stadt, die mit einem schweren historischen Erbe aus der Zeit des Nationalsozialismus klar kommen muss. Auf dem Parkplatz vor dem Hauptgebäude des weitläufigen Anstaltsgeländes erklärt Gerhard Krum, was hier während der NS-Zeit geschah:
    Vom Kalmenhof in die Gaskammer
    "Der Kalmenhof ist zu einer Einrichtung geworden, die auf der Grundlage der Rassenhygienegesetze und der späteren Euthanasie eben auch eine Zwischenanstalt zu einer der sechs Tötungsanstalten in Deutschland geworden ist – Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hadamar."
    Vom Kalmenhof in Idstein wurden viele behinderte Menschen in grauen Bussen in die Gaskammer der knapp vierzig Kilometer nördlich gelegenen Mordanstalt Hadamar gefahren. Rund 15.000 Menschen wurden in Hadamar im Rahmen der sogenannten "Euthanasie-Aktionen" der Nazis ermordet. Doch auch im Kalmenhof wurden zwischen 600 und 700 behinderte Kinder und Jugendliche umgebracht. Gerhard Krum geht über das Gelände zu dem Gebäude, in dem diese Verbrechen geschahen. Die Erdgeschoss-Fenster sind mit Brettern vernagelt, die Fenster im ersten Stock eingeworfen. Dort, so vermutet man, haben die Euthanasiemorde stattgefunden.
    "Das ist das ehemalige Kalmenhof-Krankenhaus. Es wird seit einigen Jahren nicht mehr benutzt, weil ein Neubau errichtet wurde."
    "Tolles Gebäude" mit "tollem Blick"
    Der ehemalige Bürgermeister von Idstein erfuhr wie die Bürger der Stadt im vergangenen Jahr nur zufällig, dass das leerstehende Gebäude von "Vitos Rheingau" - dem jetzigen Träger der Behinderteneinrichtung - verkauft werden sollte. Es war bereits eine Anzeige in einem Immobilienportal geschaltet worden. Für einen Kaufpreis von über einer Million Euro wurde das ehemalige NS-Mordzentrum – so wörtlich – "als tolles Gebäude aus den 20er-Jahren mit 8.000 Quadratmeter großem Grundstück und tollem Blick auf Idstein" offeriert. Gerhard Krum gehörte zu denjenigen, die diesen Verkauf nach öffentlichem Protest erst einmal stoppten.
    "Vitos Rheingau hat das Grundstück ausgeschrieben, ohne vorher die Öffentlichkeit zu suchen oder die Stadt zu konsultieren und das hat natürlich zu einigen Irritationen geführt. Daraufhin hat Vitos Rheingau die Ausschreibung gestoppt und ein Gremium eingerichtet, dem alle Fraktionsvorsitzenden aus der Stadtverordnetenversammlung, der jetzige Bürgermeister."
    Und auch Gerhard Krum selbst, der frühere Bürgermeister. Man habe grundsätzlich nichts gegen eine Neunutzung des Areals, betont er. Dann aber führt er mich zu einem Gräberfeld in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Anstaltskrankenhauses, in dem die Euthanasiemorde stattfanden:
    "Aber bevor man diese Frage näher beleuchtet, muss geklärt werden: Sind auf dem Gelände noch anderswo als auf dem Gräberfeld Leute verscharrt worden? Die müssen dann gegebenenfalls entweder umgebettet werden oder es kann halt dort nicht gebaut werden. Das muss man sehen."
    NS-Hirnforscher in Heidelberg mit Gehirnen beliefert
    Zunächst soll ein Forschungsprojekt herausfinden, wo die Nazis die Leichen der ermordeten Kinder und Jugendlichen genau vergraben haben. Auf dem stark terrassenförmig angelegten Gelände steigt Gerhard Krum auf einer alten, ziemlich zugewachsenen Steintreppe zu einem alten Schuppen, der während der Euthanasiemorde als Leichenhalle gedient hatte.
    Sind dort möglicherweise die Gehirne ermordeter Kinder und Jugendlicher entnommen und an die Universitätsklinik Heidelberg geschickt worden? Ausgeschlossen ist das nicht, denn man weiß, dass zumindest eine weitere hessische Behinderteneinrichtung einen NS-Hirnforscher in Heidelberg regelmäßig mit Gehirnen belieferte. Und man weiß, dass die während der Euthanasie im Kalmenhof zuständige Ärztin zur Fortbildung bei diesem Heidelberger Hirnforscher war. Gerhard Krum:
    "Die Menschen sind ja totgespritzt worden oder mit Medikamenten umgebracht worden. Zum Teil hat man sie auch einfach verhungern lassen. Die medizinische Art der Tötung ist vor allem in Heidelberg erforscht worden und dann haben Ärzte von hier auch Fortbildungen in Heidelberg gemacht. Insbesondere die Frau Weber, die hier zunächst stellvertretende Ärztin und später Chefärztin um Krankenhaus war."
    Euthanasie-Täterin nach wenigen Jahren wieder frei
    Die Kalmenhof-Ärztin Mathilde Weber wurde zwar nach dem Krieg als Mörderin zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde jedoch nicht sofort vollstreckt. Nach der Abschaffung der Todesstrafe im Grundgesetz kam die Euthanasie-Täterin nach wenigen Jahren wieder frei und kehrte nach Idstein zurück:
    Seit Anfang der 60er-Jahre war sie dann wieder hier in Idstein als Ärztin und angesehene Bürgerin.
    Reporter: "Sie kannten sie auch?"
    Ehemaliger Bürgermeister: "Nur vom Ansehen her, aber ich habe sie insofern noch gekannt."
    Doch nun will man in Idstein auch noch etwas über ihre Opfer erfahren, bevor das ehemalige NS-Mordzentrum mit dem " tollen Blick" über die Stadt verkauft wird.