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NS-Geschichte
Die Legende vom unwissenden Zeitzeugen Albert Speer

Zum "Edel-Nazi mit Reue-Garantie" habe sich Albert Speer nach 1945 selbst stilisiert, mit Unterstützung großer Teile der Nachkriegsbevölkerung. Der Historiker Magnus Brechtken nimmt den Rüstungsminister und Chefarchitekten des NS-Regimes genau unter die Lupe - vor allem die spätere Darstellung seiner Rolle im Dritten Reich.

Von Otto Langels | 16.08.2017
    Der Architekt und Politiker Albert Speer in einer zeitgenössischen Aufnahme. Am 31. März 1937 wurde er zum Generalbauinspektor der Reichshauptstadt Berlin berufen. Als Reichsminister war er seit Anfang der 40er Jahre für Bewaffnung, Munition, Rüstung und Kriegsproduktion zuständig. Daneben fungierte er als Generalinspekteur für das Straßenwesen, Wasser und Energie. Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß wurde Speer zu 20 Jahren Haft verurteilt. Er wurde am 19. März 1905 in Mannheim geboren und ist am 1. September 1981 in London gestorben.
    Erstaunlicherweise kam Albert Speer mit seinen Erzählungen davon, obwohl er mit seinem rücksichtslosen Einsatz und Durchsetzungsvermögen eine nationalsozialistische Funktionselite repräsentierte. (picture alliance / dpa)
    "Herr Präsident, meine Herren Richter! Hitler und der Zusammenbruch seines Systems haben eine ungeheure Leidenszeit über das deutsche Volk gebracht.",
    erklärte Albert Speer in seinem Schlusswort am 31. August 1946 im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess.
    "Die Welt aber wird aus dem Geschehenen lernen, die Diktatur als Staatsform nicht nur zu hassen, sondern zu fürchten."
    Bereits in den Vernehmungen zuvor war der ehemalige Rüstungsminister als reuiger Sünder aufgetreten. Er hatte sich zur allgemeinen Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus bekannt, jedoch seine eigene Rolle verharmlost und eine konkrete Mittäterschaft an den Gräueltaten des Regimes geleugnet. Speer schlüpfte gewissermaßen in die Rolle des eher unbeteiligten Zeitzeugen. Das rettete ihn möglicherweise vor dem Tod durch den Strang. Er kam mit 20 Jahren Haft davon.
    Wie der Historiker Magnus Brechtken, stellvertretender Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, in einer großen, beeindruckenden Biographie schreibt, versetzte sich Albert Speer mit der Legende vom unwissend-arglosen Bürger auf die schuldfreie Seite der Geschichte.
    "Auf der anderen standen die ungehobelten Parteimänner mit ihrem lauten Benehmen und den groben Visagen. Das waren 'die Nazis'. Irgendwie war er in deren Nähe geraten. Mit den dunklen Seiten des Dritten Reiches hatte der bürgerliche Speer kaum etwas gemein."
    Erstaunlicherweise kam Speer mit seinen Erzählungen davon, obwohl er mit seinem Ehrgeiz und Organisationstalent, seinem rücksichtslosen Einsatz und Durchsetzungsvermögen eine nationalsozialistische Funktionselite repräsentierte, die bis in höchste Kreise aufstieg, im Falle Speers sogar an die Seite Hitlers. Der Rüstungsminister verfügte über eine Kriegsmaschinerie, wie sie, so Brechtken, in der Weltgeschichte zuvor noch nicht eingesetzt worden war.
    "Speer sorgte für die Verlängerung des Krieges um Jahre, opferte dabei unzählige Menschen, um den Sieg des Nationalsozialismus zu erreichen, und sah sich in der Endphase des Krieges sogar ernsthaft als möglicher Nachfolger Hitlers."
    Wie die Täuschung gelang
    Wie konnte jemand, der freiwillig und zielstrebig die Ziele des NS-Regimes verfolgte, nach 1945 zum "guten Nazi" mutieren? Möglich war dies, weil Albert Speer als einziger aus der einstigen Führungsriege eine vage "Kollektiv-Verantwortung" übernahm und wichtige Dokumente zu den Verbrechen des NS-Regimes in der Nachkriegszeit noch nicht bekannt waren.
    So konnte Speer im Nürnberger Prozess zu den Arbeitsbedingungen in dem unterirdischen Rüstungswerk Mittelbau-Dora unwidersprochen behaupten, dort hätten einwandfreie Verhältnisse geherrscht - vergleichbar mit einer Nachtschicht in einem normalen Betrieb, mit Frischluft und gutem Licht.
    "Nichts davon, dass wusste Speer aus eigener Anschauung, entsprach auch nur im Entferntesten der Wahrheit."
    Von den in Mittelbau-Dora eingesetzten 60.000 KZ-Häftlingen kam ein Drittel ums Leben.
    Ähnlich geschickt setzte Speer in Nürnberg die Märchen in die Welt, er sei in das Attentat vom 20. Juli 1944 eingeweiht gewesen und habe geplant, gegen Ende des Krieges Giftgasgranaten in den Luftschutzbunker der Reichskanzlei zu werfen.
    "Tatsächlich war Speer zu keinem Zeitpunkt in die Pläne und Handlungen des Widerstandes gegen Hitler involviert. Er hat auch zu keinem Zeitpunkt selbst ein Attentat auf Hitler vorbereitet, wie er später behauptet hat, zunächst in einigen geschickten Aussagen im Nürnberger Prozess, dann in unzähligen Interviews und Erinnerungstexten."
    So zerpflückt Magnus Brechtken minutiös und schonungslos eine Behauptung nach der anderen und dekonstruiert Speers geschickt aufgebautes Lügengebilde. Was der Autor offen lässt ist, ist die Frage, ob Albert Speer am Ende nicht selber seinen zahllosen Legenden Glauben schenkte?
    Das dankbare Publikum
    Die deutsche Nachkriegsgesellschaft aber griff seine Erzählungen dankbar auf. Speer, der sich vor 1945 gerne an vorderster Front hatte ablichten lassen, vornehmlich in Uniform und an der Seite Hitlers, wurde nach 1945 der Deutschen liebster Zeitzeuge.
    "Er war repräsentativ für eine Vielzahl seiner Mitbürger. 'Die Nazis', das waren nach dem 8. Mai 1945 plötzlich 'die Anderen'. Er entwickelte sich zum prominentesten, eifrigsten und erfolgreichsten Protagonisten der Ablenkungserzählung: Ein Edel-Nazi mit Reue-Garantie. Das wiederum machte ihn zur idealen Projektionsfigur für die vielen kleineren und größeren einstmals Engagierten, die nun ebenfalls nichts mehr wissen wollten vom eigenen Anteil am Funktionieren der Herrschaft."
    Selbst ein kritisches Nachrichtenmagazin wie "Der Spiegel" erschien Ende September 1966, als Speer nach 20 Jahren Haft aus dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis entlassen wurde, mit einer Titelgeschichte über "Hitlers Freund und Gegner Albert Speer", der ein "unvorstellbares deutsches Rüstungswunder" vollbracht und sich "zum mächtigsten Gegner Hitlers" gewandelt hätte.
    Die "Entnazifizierung" des Nazis Albert Speer erfolgte unter tatkräftiger Mitwirkung des Verlegers Wolf Jobst Siedler und des Lektors Joachim Fest, des späteren FAZ-Herausgebers und Hitler-Biographen. Die beiden fungierten als "ideale Mitkonstrukteure für Speers Fabelgeschichten", so Brechtken. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen: Die Memoirenbände "Erinnerungen" und "Spandauer Tagebücher" fanden ein dankbares Publikum und wurden zu Bestsellern.
    Unkritische Historiker und andere Helfershelfer
    Kaum jemand prüfte den Wahrheitsgehalt. Der Historikerzunft attestiert Magnus Brechtken "langwährendes Unvermögen im Umgang mit Speer". So musste dieser keine kritischen Nachfragen fürchten, als ihn Joachim Fest im Oktober 1969 im Fernsehen interviewte.
    "Sie waren einer der einflussreichsten Minister in der Zeit des Dritten Reiches, haben Sie je den Namen Auschwitz in dieser Zeit gehört?" - "Ich habe ihn nicht direkt gehört. Ich bin dieser Frage ausgewichen mit dem Gefühl, dass es sich hier um eine ganz ungeheuerliche Angelegenheit handelt."
    Tatsächlich hatte der Reichsminister 1942 13,7 Millionen Reichsmark für die Vergrößerung des Lagers Auschwitz bewilligt.
    Am Ende bleibt Magnus Brechtken in seiner kritischen und sehr lesenswerten Biographie nur das Staunen über die Naivität vieler Zeitgenossen und auch mancher Historiker, die Speers Erzählungen ungeprüft Glauben schenkten, weil sie ihm glauben wollten.
    Magnus Brechtken: "Albert Speer. Eine deutsche Karriere"
    Siedler Verlag, München 2017, 910 Seiten, 40 Euro