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NSA
Die Paradoxie der Überwachungsdemokratie

Wie wird die Zukunft der NSA aussehen? Dieser Frage geht der Philosoph Bernhard H. Taureck nach und stellt vier Optionen vor: vom völligen Aus des US-Auslandsgeheimdienstes - bis hin zur Existenz unter einer theokratischen Regierungsform.

Von Bernhard Taureck | 29.06.2014
    Das Logo des US-Geheimdienstes National Security Agency
    In dieesem Jahr ist die Veröffentlichung des Essays "Überwachungsdemokratie. Die NSA als Religion" von Bernhard H. F. Taureck geplant (picture alliance / dpa)
    Am 28.05.2014 hat der Präsident der Vereinigten Staaten erstmalig unumschränkt zugegeben, in welche Argumentationsnot die USA infolge der Snowden-Enthüllungen geraten sind. In seiner Rede vor der Militärakademie in West Point hieß es dazu:
    //"Aber wir können unsere Bemühungen [der Geheimdienste] nicht klar und öffentlich erklären. Wir sind terroristischer Propaganda und internationalem Verdacht ausgeliefert. Unsere Legitimation gegenüber unseren Partnern und unserem Volk erodiert, und die Glaubwürdigkeit unserer Regierung nimmt ab."//
    (The White House 28.05.2014)
    Die NSA mag wissen, was große Konzerne wie VW und Mercedes, was die UNO oder was europäische Regierungen planen. Was sie nicht planen kann, ist der Widerstand ihrer Mitarbeiter. Die Stunde, in der sich Insider entschließen, Insiderwissen des Geheimimperiums aufzudecken und damit einen globalen Prozess zu initiieren: den Prozess der Aufklärung.
    Seit den Enthüllungen Edward Snowdens im Juni 2013 befindet sich das Geheimimperium NSA in Argumentationsnot. Die National Security Agency verlautbart, sie wolle die USA und ihre Verbündeten mit Überwachungen vor Terroranschlägen schützen, halte sich dabei allerdings an die Gesetze. Es ist bekannt, dass die Richtigkeit dieser Aussage bezweifelt werden muss. Weniger bekannt ist diese ungeheuerliche Tatsache:
    Das Wissen der NSA übersteigt das gesamte menschliche Wissen um das vierhundertfache.
    Für diese Anhäufung von Wissen an einer zentralen Stelle, in einer Geheimbehörde, gibt es keine guten Argumente. Die argumentative Lähmung der Geheimbehörde ist als politischer Dauerzustand für sie und für die politische Elite der USA riskant. Daher bedarf die Einrichtung NSA einer neuen politischen Architektur.
    Was soll geschehen?
    Die Zukunft der NSA
    Wie bei allen politischen Entscheidungen gibt es verschiedene Optionen, was die Zukunft der NSA betrifft. Vier davon werden wir in diesem Essay verhandeln.
    Zwei Optionen in den öffentlichen Diskussionen der letzten Monate kommen zur Sprache. Die erste ist eine Abschaffung der NSA und aller von ihr getätigten Überwachungen. Ihr entgegen steht eine Form der Überwachung, die mit den von der Verfassung garantierten Bürgerrechten auf eine unversehrte Privatsphäre vereinbar ist.
    Beide Lösungsansätze haben Vor- und Nachteile. Und beide werden kaum eine Zukunft haben. Die Abschaffung der Überwachungen durch die Nationale Sicherheitsbehörde oder gar die Abschaffung der Behörde selbst wird in den USA vereinzelt gefordert. In einem US-Blogbeitrag von Ende 2013 kann man lesen:
    "Das Problem besteht nicht mit der NSA, sondern darin, dass sie existiert. Die NSA sollte aufgelöst werden. […] Die NSA muss verschwinden!"
    Solchen Stimmen und Stimmungen begegnet man in den Vereinigten Staaten seit 2014 häufiger. Kenneth Roth, Direktor von Human Rights Watch, betont, dass es kein Recht zur Überwachung gäbe. Ähnlich äußert sich ein Mitglied der American Civil Liberties Union, das sagt…
    "…der Präsident sollte das Datensammeln der Regierung beenden statt es nur zu reparieren."
    Sinnhaftigkeit einer NSA-Abschaffung
    Welche Vorteile hätte das? Würden die Überwachungen beendet, könnten die ohnehin faktisch bankrotten USA mehr als zehn Milliarden US-Dollar einsparen. Die liberalen Elemente der Verfassung würden gestärkt, die USA als moralisches Vorbild gut dastehen und ihre Politik dem Geist ihrer Gesetze nicht länger widersprechen.
    Aus der Sicht der politischen Eliten, der NSA und der Regierung allerdings überwiegen die Nachteile. Bei Einstellung der Überwachungen wäre die Nation schutzlos dem feindlichen Cyberspace ausgeliefert, von dem fehlenden Schutz zu Lande, zu Wasser und in der Luft, des Erd- und Weltraums ganz zu schweigen. Aus der Sicht der US-Führung bedeutet die Option des Verzichts auf die NSA nichts. Selbst wenn sich genügend moralische und juristische Gründe finden lassen, die NSA aufzulösen, politisch wird dies nicht durchführbar sein. Mit der NSA, so würden die Eliten vermutlich argumentieren, würden auch die USA abgeschafft werden.
    Verfassungskonforme Arbeit
    Die zweite Option besteht in einer Vereinbarkeit von NSA und politischem Liberalismus. Seit den Snowden-Enthüllungen wurde diese Weltanschauung zur vorherrschenden Form der politischen Kultur. Man hält Geheimdienste und Terrorabwehr für nötig, lehnt aber deren übermäßigen Einsatz ab. Die Sicherheitsbehörde könne und solle harmonieren mit der Garantie persönlicher Freiheiten. In diesem Kontext der US-amerikanischen Verfassung wird gern das berühmte Check-and-Balances-Argument von James Madison aus der Verfassungsdebatte bemüht, eine Bezeichnung für die gegenseitige Kontrolle von Verfassungsorganen eines Staates. Vor der Verabschiedung der US‑Verfassung im Jahre 1791 fand Madison, die verschiedenen Hoheitsorgane des Souveräns müssten einander ausgewogen aufgestellt sein. Auch der französische Staatsphilosoph Montesquieu hatte 1748 einen solchen Leitgedanken der Gewaltenverteilungslehre formuliert:
    "Damit man Macht nicht missbrauchen kann, muss, mittels einer Disposition der Verhältnisse, die Macht die Macht aufhalten."
    Es ging auch in der Gründungsgeschichte der USA um einen Diskurs der Gewaltenverteilung - fälschlich als Gewaltenteilung bezeichnet - innerhalb vorausgesetzter Souveränität. Doch was gilt für die 1952 gegründete NSA, ein Hoheitsorgan der USA?
    NSA unterliegt nicht Parlamentskontrolle
    Da wir das von Anfang an geheime Gründungsdokument der NSA nicht kennen, kennen wir den genauen Status der Behörde nicht. Die Tätigkeit der NSA untersteht keiner parlamentarischen Kontrolle. Sie könnte somit als eine Macht gelten, die außerhalb von Exekutive, Legislative und Judikative steht. Es bedürfte einer Änderung der US-Verfassung, um die NSA als vierte Gewalt zu behandeln. Sofern sie dem Verteidigungsministerium zugeordnet ist, könnte die NSA auch der Exekutive zugerechnet werden. Doch selbst in diesem Fall müsste die Verfassung geändert werden, die bisher nicht von einer Exekutive ausgeht, deren Wissen das gesamte menschliche Wissen vierhundertmal übersteigt.
    Tatsächlich wurden in den USA Stimmen laut, die eine Änderung der Verfassung für erforderlich halten. Übersehen wird jedoch, dass alle Forderungen, die NSA in ein System von checks and balances zu bringen, nur dann erfolgreich sein können, wenn der Status der NSA offengelegt wird.
    Die Diskussion über die Vereinbarkeit von Überwachung und Liberalismus in den USA zeigt Grundlagenarbeit der lebendigen Demokratie. Zugleich erweisen sich Liberalismus und Fortbestand der NSA als unvereinbar - es wird lediglich ein Übergangszustand diskutiert. Die scheinbare Vereinbarkeit von garantierter Privatsphäre und vollständiger Geheimüberwachung wird zwangsläufig einer Überwachung weichen, welche das Recht auf Privatheit verdrängt.
    Im Hintergrund tun sich noch weitere, gänzlich andere Optionen für eine Zukunft der NSA in den USA auf. Sie werden noch nicht in der Öffentlichkeit diskutiert. Hinter der US-amerikanischen Verfassung stehen stark-religiöse Komponenten, wie sie schon im 19. Jahrhundert der französische Intellektuelle Alexis de Tocqueville in seinem Werk Über die Demokratie in Amerika beobachtete. Diese sind interessant im Zusammenhang mit der Diskussion über eine neue NSA-Architektur.
    Theokratie in den USA auf dem Vormarsch
    Für Europäer immer schwer nachvollziehbar sind die USA ein demokratischer Nährboden für theokratische Vorstellungen. Diese Vorstellungen einer Staatsform, bei der staatliche und religiöse Gewalt vereinigt sind und der Herrscher als Vertreter Gottes betrachtet wird, sterben nicht aus, sondern finden immer wieder politische Unterstützung. Gerhard Padderatz hat dies in einem 2008 erschienenen Buch mit dem Titel Amerika. Mit Gewalt in den Gottesstaat ausführlich dokumentiert. Laut einer Gallup-Umfrage von 2010 glauben 40 Prozent aller US-Bürger, ein Gott habe die Welt vor 10.000 Jahren in ihrer jetzigen Gestalt geschaffen. Insgesamt vertreten in den USA 78 Prozent der Bevölkerung eine kreationistische Weltanschauung.
    Wer in den USA gegen Darwin ist, neigt politisch zur Theokratie. Wenn die Menschen und die Erde von einem Schöpfergott ins Leben gerufen wurden, so sollte dieser auch die Staaten regieren. Zu den Forderungen der Theokratiefreunde in den USA gehören Schulgebet, Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbruch, Vorenthaltung von Bürgerrechten für Homosexuelle und biblische Schöpfungslehre statt Evolutionsbiologie als Lehrpensum. Hinzu kommen die strukturellen Forderungen nach einem Ende der Trennung von Staat und Kirche sowie eine Überführung aller öffentlichen Schulen in konfessionelle Lehranstalten. Insgesamt handelt es sich um sechs Forderungen. Schwer vorstellbar, dass sie den Grundbestand von Demokratie unangetastet lassen.
    Das EU-Parlament hat 2007 eine Resolution über die Gefahren des Kreationismus für Bildung und Erziehung verabschiedet. Darin heißt es:
    "Der Kreationismus, entstanden aus der Negation der Evolution der Arten durch natürliche Selektion, ist lange Zeit ein fast ausschließlich amerikanisches Phänomen geblieben. Derzeit gewinnen kreationistische Thesen in Europa an Boden."
    "Der gegen die Evolutionstheorie und ihre Verteidiger geführte Kampf stammt zumeist aus religiösen Extremismen, welche politischen Bewegungen der extremen Rechten nahe stehen. Die kreationistischen Bewegungen besitzen eine reale politische Macht […] gewisse Anhänger des strikten Kreationismus möchten die Demokratie durch die Theokratie ersetzen."
    "Wenn man nicht aufpasst, kann der Kreationismus eine Bedrohung für die Menschenrechte werden."
    Gottesherrschaft statt NSA?
    Es ist bloß eine Hypothese: Wenn die NSA nicht mehr nur im Verborgenen Macht ausüben sollte, sondern gesellschaftlich gewollt öffentlich Leistung demonstrieren müsste, könnte die theokratische Option der USA gestärkt werden.
    Eine weitere Option für die Zukunft der NSA könnte daher lauten: Theokratie statt NSA. In diesem Gedankenspiel wäre, um den USA eine Herrschaft der NSA zu ersparen, eine Gottesherrschaft vorzuziehen. Die NSA könnte weiterhin bestehen, müsste sich aber vollständig einer theokratischen Regierung unterwerfen.
    Doch die Sicherheitsbehörde ist längst ein derart potentes Imperium der Überwachung geworden, dass ihre Unterwerfung unter eine theokratische Regierung unwahrscheinlich erscheint. Bestrebungen zu einem theokratischen Umbau der USA könnten vielmehr im Vorfeld größerer Veränderungen seitens der NSA als terroristische Aktivitäten eingestuft, überwacht und ausgeschaltet werden.
    Keine Abschaffung der NSA, keine Vereinbarkeit mit Bürgerrechten, keine Theokratieübernahme.
    Vierte Option: Überwachungsdemokratie
    Eine vierte Option dessen, was aus der NSA künftig werden könnte, lautet: NSA statt Theokratie. Diese dürfte die wahrscheinlichste Option der künftigen Entwicklung der NSA und mit ihr der gesamten politischen Architektur der Vereinigten Staaten bilden. Eine politische Architektur, welche das Erbe von westlicher Metaphysik und Theologie antritt und dabei den Schein von Demokratie bewahrt und Theokratie verhindert, ist derzeit kaum im öffentlichen Bewusstsein verankert. Wenn die USA die Vorstellung von einer Demokratie beibehalten, auf die NSA aber nicht verzichten wollen, ergibt das die Paradoxie einer Überwachungsdemokratie.
    Wer vierhundertmal mehr Wissen über die Menschen als die Menschheit selbst angesammelt hat, befindet sich bereits in einer übermenschlichen Position. Um dieses übermenschliche Wissensmonopol zu rechtfertigen, bleibt langfristig kaum eine andere Wahl als die Erfindung einer religiösen Sprachregelung, welche von der Bevölkerung akzeptiert wird.
    Eine solche NSA-Religion muss jene zwei Bedingungen von Religion erfüllen, die seit der Romantik formuliert wurden. Zum einen ist es das Bewusstsein eines jeden, wenig Macht zu besitzen und letztlich von etwas viel Größerem und Mächtigeren als er selbst abzuhängen.
    Religion, so der Theologe Schleiermacher aus der deutschen Romantik, sei das Gefühl unbedingter Abhängigkeit des Menschen. Zum anderen ist Religion mit Vergesellschaftung verbunden. Religiöse Überzeugungen werden, wie der französische Soziologe Durkheim im 19. Jahrhundert festhielt, von Gemeinschaften geteilt, und sie verbinden die Gläubigen miteinander.
    Die NSA-Religion
    Ideologisch umgerüstet könnte die NSA diesen beiden Annahmen der Abhängigkeit und des Gemeinschaftsgefühls entsprechen. Das vierhundertfach größere Wissen der Sicherheitsbehörde vermittelt dem Einzelnen einerseits seine Nichtigkeit, andererseits ein Gefühl von Geborgenheit.
    Niemand erinnert sich genau, mit wem er in den letzten 100 Tagen telefoniert, welche Banküberweisungen er getätigt und mit wem er per Email korrespondiert hat. Die Sicherheitsbehörde weiß dies in jedem Detail. Sie weiß es jedoch nicht für 100 Tage, sie weiß es über Jahrzehnte. Sie versucht bereits, dieses Wissen für 100 Jahre zu speichern. Der Einzelne kann vor dieser übermenschlichen Informiertheit, vor dieser informationellen Transzendenz in Furcht und Schrecken geraten, denn er entkommt ihr nicht. Er kann jedoch die Abhängigkeit als Geborgenheit erleben und dieses Erleben mit anderen teilen. In diesem Fall werden die beiden allgemeinen Bedingungen von Religion erfüllt.
    Auf den ersten und zweiten Blick wird man dieser These gegenüber skeptisch sein: Die USA sind ein Produkt der Aufklärung, sind stolz auf ihre verfassungsmäßig garantierten persönlichen Freiheiten; insofern kommt eine religiös-politische Ideologie zur Rechtfertigung der NSA nicht in Frage.
    Betrachtet man aber die Wurzeln der US-amerikanischen Politik genauer, findet man in der von Thomas Jefferson verfassten US-Unabhängigkeitserklärung von 1776 gleich viermal die Berufung auf Gott:
    Gott der Natur (Nature's God), Gott als Schöpfer (Creator), Gott als höchster Richter der Welt (Supreme Judge of the world), Gott als höchstes Wesen einer vorausschauenden Fürsorge (Protection of Divine Providence).
    Im ersten Satz der Unabhängigkeitserklärung heißt es, der Schöpfergott habe uns mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet, darunter mit Leben, Freiheit und Glückssuche.
    Naturrechtliche Auffassungen, also diejenigen Grundsätze, die "von Natur aus" entstanden sind, werden hier mit einer religiösen Aura versehen. Gott hat uns Menschen mit dem Recht auf Leben und Freiheit ausgestattet, und zwar unabhängig von dem, was der Staat beansprucht.
    Der Satz endet erstaunlicherweise damit, dass den Bürgern "Safety and Happiness", Sicherheit und Glück, zugesichert werden. Innerhalb des Staates kommen die Naturrechte nicht mehr vor. Sicherheit und Glück sind Attribute derer, die wohlhabend sind.
    In den USA gewannen die Reichen seit der Krise 2008 mehr als 30 Prozent ihres Wohlstands und Besitzes dazu, die arme Mehrheit aber nicht einmal ein halbes Prozent. Die religiös-naturrechtlichen Rechte gelten in den USA für die Menschen, Sicherheit und Glück für die privilegierten Bürger. Das vom Weltschöpfer garantierte Recht der Suche nach Glück gilt für die Menschen im Allgemeinen und funktioniert als Trost für die Verlierer. Laut Napoleon, der als Bewunderer von George Washington galt, besitzt Religion eine Abwehrfunktion. Sie soll garantieren, dass die Armen die Reichen nicht umbringen.
    Jeffersons Unabhängigkeitserklärung kommt der Verdienst zu, dass die Bürgerrechte in den USA nicht von religiösen Ansichten abhängen dürfen. In der Regel wird allerdings übersehen beziehungsweise als Selbstverständlichkeit hingenommen, dass genau dies eine religiöse Ansicht ist.
    Denn Jeffersons Almighty God verlangt die religiöse Neutralität der Gesetzgebung: Er habe "den Geist frei erschaffen und seinen höchsten Willen kundgetan, dass er frei bleibe, indem er keine Einschränkungen erdulde".
    Kein Wunder also, dass bisher noch nie ein Atheist ein US-Regierungsamt bekleidet hat. Wer Präsident der USA wird, muss seinen Amtseid auf die Bibel schwören.
    War in der christlichen Theologie die Gottheit Schöpfer, Gesetzgeber und Richter der Welt, so überlässt die in Jeffersons Erklärung ausgedrückte Religion die Gesetzgebung den Menschen - mit dem Zusatz, dass diese gottgewollt ist.
    "Alles, was wir über Göttliches wissen, ist in unserer Vernunft enthalten, die uns Gott gab" - was mit dieser von Jefferson formulierten Religion in die Staatenbildung der USA einging, ist weder mit dem Begriff "natürliche Religion" noch mit dem des "Deismus" (Gott schuf die Welt so vollkommen, dass sie sich vollständig selbst reguliert) angemessen beschreibbar.
    US-Gesetzgebung scheint gottgewollt
    Besser könnte man zusammenfassen: Wenn die USA eine Einheit von menschlicher und göttlicher Gesetzgebung beanspruchen, dann wird ihre Gesetzgebungstätigkeit, wie auch immer sie ausfällt, stets als gottgewollt dargestellt werden und andere Darstellungen verhindern.
    Was als Gesetzgebungstätigkeit gilt, beschränkt sich nicht auf formelle Gesetze, sondern umfasst alles, was den Vereinigten Staaten eine zur Sicherheit erklärte Absicherung verschafft. Dieses Absicherungsbedürfnis der USA erklärt sich übrigens aus ihrer ursprünglichen Schwäche, der Kolonialherkunft….. Eine Kolonie Großbritanniens hatte sich als selbstständig erklärt und dem Mutterland getrotzt, das dennoch jahrzehntelang übermächtig blieb.
    Der Historiker Wolfgang Krieger urteilt, kein westlich-liberaler Staat fuße auf einer so zutiefst utopisch-ideologischen Politik wie die USA. Dafür steht ein fast in Vergessenheit geratenes Ereignis: Nach dem US-Atombombenabwurf über Hiroshima und Nagasaki hatte US-Präsident Truman Gott dafür gedankt, dass er die Atombombe den USA vorbehalten habe und Gott sich deren künftigen Einsatz vorbehalte.
    Alle sicherheitspolitischen Maßnahmen der USA können seit ihrer Gründung als gottgewollte Aktionen dargestellt werden. Wenn diese religiöse Basis des US‑amerikanischen Politikverständnisses gilt, dann könnte eine religiöse Architektur der US-Sicherheitsbehörde mühelos an die gesamte US-Tradition anknüpfen.
    Die religiösen Wurzeln der US-Verfassung könnten im Sinn der vierten Option für die Zukunft der NSA genutzt werden. Das religiöse Erbe der USA könnte in das übermenschliche Wissen der NSA als Herrschaftswissen transformiert werden. Um dies zu erreichen, stünde vermutlich an erster Stelle die Schaffung von Vertrauen der Staatsbürger in eine religiös gefärbte Überwachungsdemokratie.
    Wiederherstellung von Vertrauen
    Nach den Enthüllungen Edward Snowdens über illegale Überwachung und Abhören auch der US-Bevölkerung geht es um eine Wiederherstellung von Vertrauen. Merkwürdig ist dabei: Jeder weiß, dass einem System, das uns alle heimlich überwacht, eigentlich überhaupt nicht vertraut werden kann.
    Trotzdem wird am häufigsten dann zu Vertrauen aufgerufen, wenn gerade Vertrauen verspielt wurde.
    Was bedeutet Vertrauen?
    Man verweist bei dieser Frage gern auf die systemtheoretische Soziologie von Niklas Luhmann. Luhmann geht von einer Situation zweier Personen aus, die jeweils der anderen bedürfen, ohne sicher zu sein, dass die andere zur Mitarbeit bereit ist. Vertrauen, so Luhmann, entsteht dann, wenn eine Person einseitig in Vorleistung geht gegenüber der anderen, um eine Bindung zu erreichen, die am Ende für beide gilt. Ich gebe dir die verlangte Ware und vertraue darauf, dass du mir den genannten Preis zahlst. Infolge meiner Vorleistung kommt ein Tausch zustande. Auf diese Weise endet die Situation der Ungewissheit und Unsicherheit beider Personen und mündet in eine Beziehung der gegenseitigen Bindung und Verbindlichkeit. Ohne dass über Vertrauen Verbindlichkeiten erzeugt werden, könnten vermutlich weder Kapitalismus noch Demokratie zustande kommen. Man benötigt Vorleistung, um in Gegenleistung einzutreten.
    Diese Art des Vertrauens ist rational. Sie formuliert ein von mehreren Personen akzeptierbares Ziel - eine gegenseitige Verbindlichkeit.
    Es gibt aber auch eine andere Art des Vertrauens. Diese findet sich in der Religion. Bei Luther erscheint der in diesem Kontext aufschlussreiche Satz:
    "Wenn ich also auf irgendeine Weise verstehen könnte, wie dieser Gott barmherzig und gerecht sein kann, der so viel Zorn und Ungerechtigkeit an den Tag legt, wäre der vertrauende und bindende Glaube nicht nötig."
    Vertrauen in Gott ist einseitig
    Somit: Jemand sieht sich einer zornwütigen und ungerechten Gottheit ausgesetzt. Es gibt daher keinen erkennbaren Grund, darauf zu vertrauen, dass diese Gottheit sich als barmherzig und gerecht erweist. Ein zorniges und ungerechtes Gottwesen verdient kein vernunftbestimmtes Vertrauen. Dass einer solchen Gottheit Vertrauen geschenkt wird, ist rational nicht fassbar. Das Vertrauen in Gott ist einseitig. Gott zeigt sich mir als ungerechtes Verhalten: Indem ich ihm trotzdem vertraue, erlebe ich Sinn, den ich zuvor nicht kannte. Ich erlebe mich als von Gott trotz meiner Unzulänglichkeiten akzeptiertes Wesen. Ich erlebe einen übermenschlichen Frieden.
    Nur diese zweite Vertrauensart kann für eine religiös gesteuerte Überwachungsdemokratie von Interesse sein - die nicht-rationale religiöse, die auf Sinnerleben statt auf einer Gegenseitigkeit beruht. Der Imperativ einer Überwachungsdemokratie könnte daher lauten: "Bildet mehr und mehr Vertrauen zu der Regierung und ihren übermenschlichen Geheimdiensten!" Vertrauen wird nunmehr Gegenstand eines Prozesses, einer Anstrengung. All dies ist bekannt unter dem Namen "vertrauensbildende Maßnahme."
    Auf den ersten Blick mögen solche Bekundungen als moralische Mahnung wirken. Auf den zweiten Blick dagegen zeigt sich etwas anderes. Wiederherstellung von Vertrauen in eine Behörde, deren Arbeit strukturell Vertrauen der Bevölkerung missbraucht, ist sowohl logisch als auch psychologisch widersinnig. Doch dieser Widersinn zielt auf die Bereitschaft der Menschen zu einem nicht-rationalen Vertrauen. Es soll über Akte rationalen Vertrauens aufgebaut werden. Der die Bevölkerung überlistendeTrick besteht darin, dass alle zu dem Urteil gelangen sollen, ihre Vertrauensvorleistung werde belohnt mit einer Vertrauensgegenleistung. Genauer: Jeder soll die rationale Erwartung hegen, es handele sich um eine gleichfalls rationale Gegenleistung.
    Eine solche religiös-politische Zukunftsvision aus der Sicht der NSA könnte sich so anhören:
    "Ihr habt lange ausgeharrt. Die Geheimbehörde ist keine Bäckerei, die euch Brot verkauft. Sie ist auch keine Bank, die euch Zinsen auszahlt. Sie ist kein Aktienunternehmen, das mit Dividende belohnt. Ihr Lohn übersteigt all das. Die Behörde akzeptiert euch, wie ihr seid mit allen euren Vorzügen und Nachteilen. Sie ist die einzige Instanz, die das vermag, denn sie ist die einzige, die jeden von euch genauer kennt als er sich selbst. Die Behörde akzeptiert euch in der Mehrheit, denn sie sortiert alle diejenigen aus, die allen Schaden zufügen wollen. Indem sie die Schurken observiert und eliminiert, akzeptiert sie euch und gibt euch einen Sinn, den ihr auf andere Weise umsonst in eurem Leben suchen würdet. Ihr findet, was noch niemals in der Geschichte möglich war, ihr findet einen übermenschlich gesicherten Frieden."
    Es ist keine Zukunftsmusik, dass die Gesellschaften in den USA und in Europa dieses religiös-politische Vertrauen in die NSA und in die politischen Eliten mehrheitlich bilden werden. Es heißt ja schon heute: Man könne sich frei bewegen, die Überwachung sei lediglich formal und gelte nur dem rechtzeitigen Aufspüren von Feinden der Freiheit und Friedfertigkeit. Die Feinde der Freiheit seien dagegen terroristische Anhänger der Theokratie. Im Geiste eines so trickreich erlangten Vertrauens könnte die vierte Option - NSA statt Theokratie - möglich werden.
    Akzeptanz der NSA steigt
    Bereits jetzt zeichnet sich gesellschaftliche Zustimmung für eine religiös verbrämte Überwachungsdemokratie ab. Selbst aus Kreisen US‑amerikanischer Bürgerrechtsbewegungen wird signalisiert, man akzeptiere die NSA, sofern man über deren Ziele und Methoden informiert werde. Widerstand gegen das Überwachungssystem wird damit einhergehend als etwas Illegales markiert, noch bevor er sich überhaupt regt.
    Müssen wir daher von "NSA statt Theokratie" ausgehen? Müssen wir akzeptieren, was wir nicht verändern können?
    Wenn wir das täten, dann würden wir die Wünsche der politischen Eliten und der Geheimdienste in einem märchenhaften Ausmaß erfüllen.
    Die übermenschliche Maschinerie der Überwachung, welche das Künftige kontrollieren möchte, noch bevor es sich ereignet, bringt genau ein Phänomen hervor, nämlich den Widerstand ihrer Mitarbeiter.
    Und damit zurück zum Anfang:
    Die NSA mag wissen, was große Konzerne wie VW und Mercedes, was die UNO oder was europäische Regierungen planen. Was sie nicht planen kann, ist der Widerstand ihrer Mitarbeiter. Die Stunde, in der sich Insider entschließen, Insiderwissen des Geheimimperiums aufzudecken und damit einen globalen Prozess zu initiieren: den Prozess der Aufklärung.
    Bernhard H. F. Taureck, geboren 1943, ist Philosoph und Literaturwissenschaftler, lehrte an der TU Braunschweig und lebt in Hannover. In diesem Jahr ist die Veröffentlichung seines Essays "Überwachungsdemokratie. Die NSA als Religion" geplant.
    Progammhinweis:
    Am kommenden Sonntag beginnt in "Essay & Diskurs" der "Architektursommer" - in vier Sendungen im Juli stellen wir Fragen zur Architektur, unter anderem an Sabine Scho. Sie ist Lyrikerin und Interpretin von Zoologischer Architekt