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NSU-Mordserie
Fesselnde Chronik des Rechtsterrorismus

In ihrem Buch "Heimatschutz" schildern Stefan Aust und Dirk Laabs akribisch das Versagen des Staates bei der Jagd nach den Mitgliedern des NSU. Es ist die erste umfassende Bestandsaufnahme des aktuellen Kenntnisstandes. Spannend wie ein Politthriller, leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Debatte um die Rolle der Geheimdienste.

Von Winfried Dolderer | 26.05.2014
    Die Journalisten Stefan Aust (l) und Dirk Laabs (r) bei der Vorstellung ihres Buches "Heimatschutz"
    Die Journalisten Stefan Aust (l) und Dirk Laabs (r) bei der Vorstellung ihres Buches "Heimatschutz" (dpa / picture alliance / Jörg Carstensen)
    Es sind Daten und Schauplätze, die die Lektüre strukturieren. 4. November 2011, Eisenach: In einem ausgebrannten Campingbus werden die Leichen zweier Männer gefunden, die Stunden zuvor eine Sparkasse ausgeraubt haben. In den folgenden Tagen erfährt eine bestürzte Öffentlichkeit, dass jahrelang ein rechtsextremes Mördertrio unerkannt eine Blutspur durch die Republik hat ziehen können. 9. September 2000, Nürnberg-Langwasser: Mit dem Mord an dem türkischstämmigen Blumenhändler Enver Şimşek beginnt die Anschlagsserie, der bis 2007 zehn Menschen zum Opfer fallen. 2. Februar 1995, Jena: Eine "Interessengemeinschaft Thüringer Heimatschutz" beantragt die Genehmigung einer Demonstration gegen die europäische Einigung. Die Thüringer Neonazi-Szene, der die Terrorgruppe und ihre Unterstützer entstammen, hat damit einen Namen.
    Schlüsseldatum 10. November 2011
    Das Schlüsseldatum in dieser Geschichte indes ist für die Autoren wohl ein anderes. Es ist der 10. November 2011. Sechs Tage zuvor sind in Eisenach die beiden toten Männer entdeckt worden. Zwei Tage zuvor hat sich die Überlebende des Trios Beate Zschäpe der Polizei gestellt. An diesem Vormittag jedoch, dem 10. November, ergeht im Bundesamt für Verfassungsschutz die Weisung, die Akten von sieben V-Leuten aus dem rechtsextremen Thüringer Milieu zu schreddern. Es ist nur der Anfang.
    "Die letzte Akte vernichtete man offiziell am 4. Juli 2012. Bis dahin hat man allein im Bundesamt 310 Akten geschreddert, mithin Tausende von Dokumenten zerstört."
    Ein Jahr verging, bis der Verfassungsschutz die Vernichtungsaktion unmittelbar nach der Festnahme Zschäpes eingestand. Bis heute lautet die gängige Erklärung, die Verantwortlichen hätten nicht recht gewusst, was sie taten. Autor Stefan Aust ist vom Gegenteil überzeugt. Er erinnert an eine Äußerung des heutigen Geheimdienstkoordinators im Kanzleramt Fritsche vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Berlin:
    "Er hat es auf jeden Fall, er hat es gerechtfertigt mit diesem schönen Satz, noch mal eben ganz wörtlich, das müssen Sie sich wirklich mal merken: Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren. Welches Staatsgeheimnis ist es?"
    Schlimmster Fall von Staatsversagen in der Geschichte der Bundesrepublik
    Die Affäre um den "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU), wie sich das Mördertrio nannte, ist der vielleicht schlimmste Fall von Staatsversagen in der Geschichte der Bundesrepublik. Als besonders beschämend wurde im Nachhinein empfunden, dass die Polizei jahrelang in die falsche Richtung ermittelt hatte. Hartnäckig suchte sie die Urheber der von der Großbuchstabenpresse so bezeichneten "Dönermorde" nicht im rechtsextremen Milieu, sondern in Kreisen der Ausländerkriminalität. Bei einer Gedenkstunde für die Opfer im Februar 2012 bat Angela Merkel um Entschuldigung. Drei Untersuchungsausschüsse des Bundestages sowie der Landtage in Thüringen und Bayern versuchten, die Hintergründe aufzuklären.
    Stefan Aust und Dirk Laabs haben die Untersuchungsberichte minutiös ausgewertet, mehr als hundert Interviews geführt und weitere Quellen herangezogen. So den Briefwechsel des späteren NSU-Täters Uwe Mundlos mit einem inhaftierten Gesinnungsgenossen aus den neunziger Jahren oder den SMS-Verkehr zwischen Unterstützern des Trios. Entstanden ist ein fast 900 Seiten starker Report, dessen Verfasser auf Interpretationen bewusst verzichten.
    "Das Buch wendet sich natürlich an eine breitere Schicht, die spürt, dass etwas nicht stimmt bei dem Thema, aber jetzt mal Fakten will."
    Drei miteinander verflochtene Geschichten
    Sagt Autor Laabs. Der Band enthält drei miteinander verflochtene Geschichten. Ein Kompendium des rechtsextremen Terrorismus und der migrantenfeindlichen Gewalt seit den Siebzigerjahren. Die Schilderung der pannenreichen Fahndung nach den Urhebern der Mordserie. Im Kern indes geht es um die Rolle des Verfassungsschutzes. Waren die Behörden auf dem rechten Auge blind? Laabs widerspricht:
    "Wenn man das jetzt mal ein bisschen ausdifferenziert, was wir in dem Buch machen, war der verantwortliche Geheimdienst, das Bundesamt für Verfassungsschutz, nicht auf dem rechten Auge blind, sondern man hat mit großer Sorge die Entwicklung nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in Westdeutschland – Solingen, Mölln – gesehen und hat darauf reagiert, indem man systematisch die rechte Szene unterwandert hat."
    Die Praxis, Neonazis als V-Leute zu rekrutieren, geriet erstmals 2003 in die Kritik. Damals verweigerte sich deswegen das Verfassungsgericht einem NPD-Verbot. Die NSU-Affäre ließ erneut die Frage aufkommen, ob von dieser Praxis der Staat oder nicht vielmehr die Neonazis profitieren. Aust und Laabs dokumentieren einen Tonbandmitschnitt von Äußerungen des Thüringer V-Mannes Tino Brandt:
    "Man hat Kohle bekommen von denen, man hat sie eben eingesetzt, propagandistisch also ... Ich glaube, teilweise hat er's gewusst und hat einfach in seinem Bericht mit Sicherheit ganz andere Sachen reingeschrieben ... Ich bin in der Lage, dieses zu beherrschen ... Mit den Informationen, die sie gekriegt haben, die hätte zu 90, 95 Prozent jeder erfahren können, der mit mir am Tisch saß und gelabert hat."
    Zur Sprache kommen auch die internationalen Verflechtungen, aus denen der Terror ideologische Impulse bezog. So die Wahnidee, die "weiße Rasse" müsse sich ihrer drohenden Vernichtung erwehren in einem Kampf "einsamer Wölfe" und kleiner Zellen: Sie stammte aus Extremisten-Zirkeln in den USA. An ihrer Vermittlung in die deutsche Szene waren V-Leute beteiligt. Hätte es ohne diese den NSU vielleicht nie gegeben?
    "Es sieht nur so aus, als wenn sie sehr nah dran waren über diese verschiedenen V-Leute, und anschließend, als das deutlich geworden ist, da haben sie gesagt. Um Gottes willen, es darf nicht bekannt werden, wie nah wir dran waren. Das ist die einzige Schlussfolgerung, die man daraus ziehen kann, aus dieser Schreddrei."
    Wesentliche Fragen bleiben offen. Was das Buch bietet, ist eine erste umfassende Bestandsaufnahme des aktuellen Kenntnisstandes, fesselnd wie ein Politthriller. Zur Debatte um die Rolle der Geheimdienste ist dies ein herausragender Beitrag.
    Stefan Aust/ Dirk Laabs: Heimatschutz.
    Der Staat und die Mordserie des NSU
    Pantheon Verlag, 864 Seiten, 22,99 Euro
    ISBN: 978-3-570-55202-5