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NSU-Prozess
Protokolle für die Ewigkeit

Im NSU-Prozess wurden bisher 272 Tage verhandelt und Hunderte von Zeugen gehört - ein Ende ist nicht in Sicht. Das Netzwerk "NSU-Watch" begleitet und protokolliert jeden einzelnen Verhandlungstag. Es will eine "unabhängige Beobachtungsstelle" sein und der Nachwelt einen detaillierten Einblick in den historischen Prozess geben.

Von Thomas Moser | 24.03.2016
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    Auch Beate Zschäpes Aussagen werden von "NSU-Watsch" detailliert protokolliert. (Peter Kneffel/dpa)
    "Das war bitter für die Opfer des NSU und ihre Angehörigen, von denen ja auch einige hier am Prozess teilgenommen haben. Bitter, da kam nichts an Aufklärung."
    München, Anfang Dezember 2015: Im NSU-Prozess hat die Hauptangeklagte Beate Zschäpe nach zweieinhalb Jahren ihr Schweigen gebrochen. Das Interesse von Medien und Öffentlichkeit ist groß. Tobias Bezler erlebte den Tag im Sitzungssaal mit.
    "Es wird ein Wissen weitgehend abgestritten. Es wird auf andere, in dem Fall auf Tote geschoben, aber die eigene Einlassung zur eigenen Person ist völlig lebensfremd, unwirklich. Die würde ich gar nicht ernst nehmen."
    Tägliche Protokolle der Prozesse
    Seit Beginn der Hauptverhandlung im Mai 2013 verfolgt Bezler die Zeugenvernehmungen und protokolliert sie - Tag für Tag, ein Chronist dieses Prozesses. Zwei Mitstreiter unterstützen ihn.
    "Bei uns gibt es eben auch den prozessualen Alltag, muss man schon sagen, mit allen Formalia, mit allen Sachverständigen-Aussagen, mit allen Asservaten, mit dem Verlesen von Aktennummern. Das findet sich ja in unseren Protokollen genauso."
    Bezler ist Teil von "NSU-Watch", ein Netzwerk von Einzelpersonen und Gruppen, die sich schon lange gegen rechtsextremistische Aktivitäten engagieren. Eine "unabhängige Beobachtungsstelle" wollen sie sein, gegründet nach der Aufdeckung des Terrortrios Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe im Jahr 2011. Seither besuchen sie die Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern und verfolgen vor allem den Prozess in München. Während Journalisten für ihre Nachrichten bestimmte Zeugenaussagen auswählen und das Spektakuläre berichten, erstellen Bezler und Kollegen nahezu vollständige Wort- und Verlaufsprotokolle.
    "Ansonsten erheben wir nicht den Anspruch, dass wir irgendwie die beste Protokollierung des Prozesses machen würden, sondern wir haben uns halt den Anspruch gesetzt, tatsächlich eine vollständige Protokollierung zu machen, für die Leute, die das interessiert."
    Bekannter Beobachter in der letzten Reihe
    Auf der Besuchertribüne im Gerichtssaal hat Bezler einen festen Sitzplatz, immer derselbe, ganz oben, letzte Reihe. Kurz vor zehn Uhr beginnen die Verhandlungstage in der Regel. Den Laptop auf den Knien schreibt Bezler Wort für Wort mit, so gut und so schnell er kann. Ab und zu auch ein Blick nach unten zu den Richtern, Zeugen und Angeklagten, um Reaktionen einzufangen. Eine hochkonzentrierte Arbeit:
    "Wenn bspw. Fachbegriffe oder medizinische Terminologie verwendet wird. Dass viele Menschen im Rahmen ihrer Antworten und Aussagen einfach nicht druckreif reden. Dass sie bspw. Sätze woanders beginnen lassen, als sie dann sinngemäß enden. Dass Menschen Verneinungen vergessen, doppelte Verneinungen verwenden, so dass nicht so ganz deutlich wird, wie drastisch, wie sicher, wie genau sie etwas meinen."
    Zirka 40 Seiten umfasst die Mitschrift an jedem Verhandlungstag. Etwa 12 redaktionell bearbeitete Seiten stellen Bezler und seine Kollegen in den NSU-Watch-Blog ins Netz, zugänglich für jedermann, zusätzlich eine türkische Übersetzung.
    Ein Prozess, der Justizgeschichte schreiben wird
    272 Tage wurde bisher in München verhandelt, hunderte von Zeugen wurden gehört, eine Ende ist nicht in Sicht. Ein Prozess, der Justizgeschichte schreiben wird. Umso überraschender: Es gibt von ihm kein offizielles Wortprotokoll. Festgehalten werden lediglich Rahmendaten, wie Beginn und Ende eines Sitzungstages, Anträge oder Namen der Zeugen, erklärt die Sprecherin des Oberlandesgerichtes München, Andrea Titz:
    "Wir müssen auch beachten, dass wir ein Protokoll nicht deshalb führen, um es später der Nachwelt zugänglich zu machen und um historische Interessen zu befriedigen, die unzweifelhaft in diesem Verfahren gegeben sein mögen. Sondern dieses Protokoll dient einem speziellen Zweck: Nämlich für eine etwaige Rechtsmittelinstanz und darauf muss das Gericht sein Augenmerk richten."
    Das ist in allen Strafverfahren so. Das Urteil fällen die Richter anhand ihrer eigenen Notizen.
    Richterliche Entscheidung auf Grundlage der eigenen Notizen
    "Die Richter des Senats schreiben selbstverständlich mit, was geschieht und auch was auch gesagt wird von den Zeugen. Und auf dieser Grundlage wird dann die Entscheidung getroffen."
    Dieses Richterprotokoll wird nicht Bestandteil der Prozessakten und ist niemandem zugänglich. Viele Strafrechtler und Strafverteidiger kritisieren diese Praxis:
    "Das ist ein großer Nachteil für die Rechtsfindung", sagt Bernd-Max Behnke. Er ist Professor für Strafrecht und Anwalt. Im NSU-Prozess vertritt er Angehörige eines der Mordopfer.
    "Ein Wortprotokoll würde Vieles widerlegen können, was Richter verstanden und im Urteil wiedergegeben haben. Und das wollen sie natürlich nicht."
    Viele Urteile würden dann den Revisionen nicht standhalten, meint Behnke. Für ihn ist die Protokollfrage, das Nicht-Protokollieren von Zeugenaussagen, deshalb auch eine Machtfrage der Justiz:
    "Man könnte das als Machtinstrument der Richter bezeichnen."
    Netzwerk ist auf Spenden angewiesen
    Doch nicht diese Praxis steht im Fokus von Tobias Bezler und NSU-Watch - sie wollen den Zschäpe-Prozess für die Nachwelt niederschreiben. Einen Großteil der Arbeit leisten sie unentgeltlich. Reisen, Übersetzungen und auch die Anwesenheit im Prozess werden durch Spenden finanziert. Bislang ist eine sechsstellige Summe zusammengekommen. Die ist allerdings langsam aufgebraucht, und mit der Dauer des Prozesses könnte bald der nächste Spendenaufruf fällig werden. Denn sie wollen den Prozess, von dem jetzt schon klar ist, dass er historisch werden wird, auf jeden Fall bis zum Ende dokumentieren.
    "Es ist ja schon ein wichtiger Prozess für die deutsche Nachkriegsgeschichte und da schreibt niemand mit. Also es wird für eine spätere wissenschaftliche Auswertung des NSU-Prozesses neben den Prozessakten nur die Protokolle geben, die wir bisher online gestellt haben."