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NSU-Trilogie in der ARD
Den Opfern ein Gesicht geben

"Vergesst mich nicht" - so lautet der Titel des zweiten Teils der NSU-Trilogie, der heute Abend in der ARD zu sehen ist. Regisseur Züli Aladag erzählt die Geschichte der Familie Şimşek. Der Blumenhändler war 2001 in Nürnberg das erste Opfer des rechtsradikalen NSU. Jahrelang aber war er aus Sicht der Behörden vor allem eines: ein Täter.

Von Silke Lahmann-Lammert | 04.04.2016
    Semiya Şimşek (Tochter von Enver Şimşek), Regisseur Züli Aladag und Hauptdarstellerin Almila Bagriacik
    Semiya Şimşek (Tochter von Enver Şimşek), Regisseur Züli Aladag und Hauptdarstellerin Almila Bagriacik (Imago/Eibner)
    "Ihr Mann fuhr nach Holland. Regelmäßig. Warum?"
    "Zu frische Blumen holen."
    Adile Şimşek umklammert ein Foto ihres Mannes Enver. Immer wieder ist die Witwe des ermordeten Blumenhändlers aufs Präsidium bestellt worden. Immer haben die Beamten sie wieder verhört.
    "Also erst war er Schafhirt, dann Hilfsarbeiter, dann Blumenhändler und ganz plötzlich auf einmal Millionär oder was?"
    "Weil er Tag und Nacht gearbeitet hat."
    "Nein, weil er Drogen transportiert hat, Frau Şimşek."
    Am Ende der Szene nimmt die Kamera noch einmal das Foto von Enver Şimşek in den Fokus – zerknüllt zwischen den Fingern seiner Frau. Ein zerstörtes Bild: Besser ließe es sich nicht auf den Punkt bringen, was die Ermittler, was die Medien, was wir als Gesellschaft den Familien angetan haben. So fest saß das Vorurteil, die Ermordeten seien in kriminelle Machenschaften verwickelt, dass irgendwann selbst die Trauernden ihren Erinnerungen misstrauten.
    "Also man muss sich ja in die Rolle so einer Frau hineinversetzen, die jetzt nicht nur den Mann, den Freund, den geliebten Partner verloren hat, die plötzlich allein diese Firma bewegen muss."
    Aus dem Trauerprozess herausgerissen
    Als Vorlage für den Film diente Semiya Şimşeks autobiografischer Bericht "Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater". Laila Stieler hat die Familiengeschichte zum Drehbuch verdichtet.
    "Er ist ermordet worden. Man darf aber nicht trauern, weil man immer wieder verdächtigt wird. Man wird aus diesem Trauerprozess immer wieder herausgerissen, in so einen Raum gezerrt und befragt, ob man's nicht selber war. Oder am Ende, ob er nicht selber vielleicht schuld ist, dass er umgebracht wurde. Das muss man sich mal vorstellen. Wer hält denn dem stand?"
    "Frau Şimşek? Guten Morgen. Wohnungsdurchsuchung."
    "Guten Tag. Moment, was soll das?"
    "Bitte lassen Sie uns durch."
    "Ruhig, Adile, bitte bleiben Sie ruhig."
    "Was ist hier los?"
    "Das ist ein ganz normaler Durchsuchungsbeschluss."
    Der Film führt uns mitten hinein in die Familie Şimşek. Gemeinsam mit der 14-jährigen Semiya erleben wir den Verlust des geliebten Vaters und seine anschließende Demontage vom Opfer zum Täter. Wir hören das plump-vertrauliche "Du" der Beamten, die verletzenden Zwischentöne. Worte, die ausgrenzen und den Hinterbliebenen zu verstehen geben, dass sie Fremde sind - und Fremde bleiben.
    "Semiya, sprichst du deutsch?"
    "Ja logisch. Und Sie?"
    Präzise schildert der Film, wie Rassismus funktioniert.
    "Da kümmert sich jetzt die Soko 'Halbmond' drum. 30 Leute."
    "Wieso Halbmond?"
    "Passt doch zu einer Mordserie an türkischen Geschäftsleuten."
    Und wie er den Blick der Fahnder über Jahre in die falsche Richtung lenkt.
    "Enver Simsek wurde von acht, von acht Kugeln getroffen. Fünf davon ins Gesicht."
    "Sehr unschön. Hm. Affekt meinen Sie? 'Ne Beziehungstat innerhalb der Familie?"
    "Ich meine, es ging ums Töten. Er wurde regelrecht hingerichtet. Exekution. Rache. Vielleicht eine Ehrenmord-Geschichte wegen der Tochter und der Ehefrau."
    "Warum nicht? Ist alles möglich in dem Umfeld."
    Auch wenn wir uns über das Versagen von Polizei und Verfassungsschutz empören - für die meisten von uns bleiben die NSU-Morde abstrakte Nachrichten aus den Medien, meint Regisseur Züli Aladag.
    "Und ich denke, dass es irgendwelche Namen sind, die fremdländisch klingen und die man sich ohnehin nicht merken kann. Aber: Was die Menschen erlebt haben, wissen die Meisten nicht. Und selbst wenn man es weiß, glaube ich, dass man es nicht nachempfinden kann."
    Den Opfern ein Gesicht geben
    Aladag will vor allem eins: Den Opfern ein Gesicht geben. Wie schwierig es ist, den Blickwinkel der Betroffenen einzunehmen, ist ihm und seiner Drehbuchautorin bewusst.
    "Über Opfer erzählen und sich das dann auch noch angucken, ist 'ne Sache, die ist nicht ganz leicht. Wer geht schon gern in diese Perspektive rein. Mir ging es in meinem Drehbuch vor allem darum, eine Geschichte zu erzählen, wie so eine Familie aus so einem Ereignis hervorgeht - und dann immer wieder die Kraft schöpft, zusammen zu bleiben und sich gegenseitig aufzurichten. Wie ein Mädchen, was ein ganz normaler Teenager ist und sich in - weiß ich nicht - welche Richtung entwickelt hätte, eben durch dieses Ereignis in völlig neue Zusammenhänge katapultiert wird. Und so über sich hinauswachsen muss."
    Insofern erzählt der Film auch die Coming-of-Age-Geschichte einer jungen Frau, die sich nicht unterkriegen lässt - und stellvertretend für die Anderen ihre Stimme erhebt:
    "Es ist jetzt sechs Jahre her. Und seit sechs Jahren stirbt er immer wieder. Mit jedem, der erschossen wurde. Das muss ein Ende haben!"
    Zutiefst berührend
    Züli Aladag ist ein zutiefst berührender Film gelungen. Er erzählt die Geschichte der Opfer, ohne ihr Leid zu exhibitionieren. Und macht – für viele Zuschauer vielleicht zum ersten Mal – die Katastrophe jedes einzelnen Mordes spürbar. Ein Film, der Raum schafft für die Trauer und das Mitgefühl, die den Angehörigen der NSU-Opfer so lange verwehrt blieben.
    Hochaktuell in einer Zeit, in der wir Menschen als "Flüchtlingsfluten" anonymisieren. Und wieder die Einzelschicksale übersehen.