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Nur Verlierer

Ein Mann Ende Vierzig steigt am Frankfurter Hauptbahnhof in ein Taxi, verlangt die Fahrt nach Düsseldorf, setzt sich auf den Beifahrersitz und will den Taxifahrer nach wenigen Kilometern auf dem ersten Rastplatz ermorden. So klar und deutlich beginnt Bruno Preisendörfers neuer Roman "Die Vergeltung". Er greift damit eine Idee auf, die uralt ist: Richter und Verurteilter, Rächer und Verbrecher, Henker und Opfer sind auf engstem Raum vereint, ohne daß sie voneinander wissen. Ein Kammerspiel um Todesangst und Todesstoß beginnt. Bruno Preisendörfer:

Von Oliver Seppelfricke | 19.12.2007
    "Ich wollte eine klaustrophobische Stimmung erzeugen. Fast alle Situationen spielen in beklemmenden oder kleinen Räumen. Wie im Taxi in der Eröffnungsszene. Ich wollte die Konfrontation Rächer – Mörder."

    Vor 19 Jahren hatte Sebastian Neubert, damals ein 26-jähriger vorbestrafter Autodieb, bei einem Raubeinbruch mehr versehentlich als beabsichtigt Vanessa, die 30-Jahre alte und gerade frisch angetraute Frau von Michael Keller ermordet. Er hat sie erschossen. Keller hielt seine verblutende Frau in den Armen, schwor sofort Rache. Nun, 19 Jahre später, nach dem Prozess und nach den 16 Jahren Haft für den Mörder Neubert, führt er ihn aus. Vielmehr: Er will ihn ausführen. In der Theorie ist ihm, einem Mann von Prinzipien, alles klar. Bruno Preisendörfer:

    "Das Thema ist Schuld und Sühne, Rache und Vergebung, die Sehnsucht nach Verzeihung und das Verlangen nach Rache und Vergeltung. Verzeihung und Vergeltung, das ist die Konfrontation, das Duell."

    Doch es kommt anders, als Michael Keller, ein moderner Michael Kohlhaas, es sich denkt. Den Mörder, der nach seiner Freilassung zwei Jahre lang als Taxifahrer arbeitete, hat Keller stets von einem Privatdetektiv beschatten lassen. Über Sebastian Neubert weiß er gut Bescheid. Als Neubert sich neu verheiraten will nach einer gescheiterten Ehe, greift Keller zu. Dieses Glück, das ihm Neubert vor 19 Jahren zerstört hatte, gönnt er ihm nicht. Vor der Heirat muss er sterben, um seine Bluttat, die Kellers Leben von Grund auf verändert hatte, zu sühnen. Soweit die Theorie. Doch dann kommt das wirkliche Leben. Keller setzt sich zu Neubert ins Taxi, die Pistole steckt in der Tasche, doch dann kommt man ins Reden, entdeckt Gemeinsamkeiten, mehr noch als Keller, der über Neubert ja schon durch den Detektiv viel wusste, klar war. Es kommt, wie es kommen muß: Rächer und Opfer nähern sich an.

    "Das ist eine der Zentralideen. Ich hatte mir vorgestellt, dass diese beiden Menschen sich auf eine merkwürdige Weise anfreunden, fast gegen ihren Willen. Ohne dass der Rächer von seiner Rache ablässt. Das hat mich interessiert, was da passiert. Aber nicht aus der Innenperspektive nur, also keine psychologische Studie, sondern immer was zwischen den Leuten passiert. Das Konstellative."

    Klingt vielleicht etwas unglaubwürdig, aber nicht unwahrscheinlich. Rächer und Mörder kommen sich näher. Spielen Domino, entdecken gemeinsame Vorlieben, und über all dem schwächt sich der Wille Kellers, den Mörder seiner Frau zu töten, ab. Bruno Preisendörfer hat dafür ein schönes Bild gefunden. Zur silbernen Hochzeitsreise, so malte es sich Keller früher einmal aus, hätte er in Rom das Klavierstück des Komponisten Nancarrow als alte Lochkarte gekauft. In einem mechanischen Piano mit Stiftwalzen hätte er es sich angehört, wie von Geisterhand bewegt. Jetzt lässt er seinen Racheplan wie eine Lochkarte ablaufen, doch die Maschine, die Schicksal heißt, stottert. Es kommt alles ganz anders. Und Bruno Preisendörfer entfaltet dieses Stottern im Ablauf sehr gekonnt:

    "Das Buch hat vier Teile. Und es wird immer ganz bewusst ein Teil aus der Perspektive des Rächers und ein Teil aus der Perspektive des Mörders erzählt. Immer abwechselnd. Wie eine Schaukel."

    Die Vergeltung soll wie eine Mechanik ablaufen, doch die Vergeltung ist keine Mechanik, sie ist, bevor sie vollzogen ist, ein Gefühl, dem andere Gefühle in die Quere kommen können. Die Maschine der Vergeltung kann leer laufen, stillstehen, sich überhitzen, in die Luft fliegen – Bruno Preisendörfer inszeniert all diese Zustände. Er blendet in die Vergangenheit Kellers zurück, als er ein glücklich verheirateter Investmentbanker voller Pläne und Karriere war, als die Namen der nie geborenen Kinder feststanden, als das Glück so groß war, dass man es kaum greifen konnte. Und zum Moment, als es dann jäh zerschmettert wurde. Und er blickt auf das Leben des Mörders Neubert, zurück. Auf eine unglückliche Kindheit, eine schlechte Ehe, lange Arbeitslosigkeit, das neue, nun zu erwartende Glück, die neue Liebe. All diese Rückblenden inszeniert Bruno Preisendörfer wie Kamerafahrten in die Vergangenheit der Protagonisten. Eine geradezu filmische Technik. Die dem Autor gut vertraut ist.

    "Gerade bei diesem Roman habe ich eine ganze Reihe von Szenen im Kopf. Es gibt Szenen, die sehr unschön sind, die ich leider selber erlebt habe. Die ich hier natürlich fiktionalisiert habe, es ist ja kein autobiografisches Werk. In verwandter Form habe ich sie jedoch selber mitgemacht und da zittern mir heute noch die Knie. Das sind Dinge, die mir sehr deutlich vor Augen stehen."

    Bruno Preisendörfer inszeniert die vier Teile des Buchs wie vier Runden in einem Boxkampf. Die Kontrahenten sind auf engstem Raum beisammen, tasten sich ab, mal führt der eine, mal der andere, beide teilen aus, und das Ende ist dann zwar nicht überraschend, aber konsequent und schlüssig. Die Vergeltung findet doch statt, aber anders als geplant...

    "Es ist wirklich ein Kampf im Ring. Der Ring ist ja auch sehr umgrenzt. Das Werk hat ja kammerspielartige Züge. Es gibt eigentlich keinen Gewinner und keinen Verlierer. Es gibt keinen Sieger. Es gibt nur Verlierer."

    Bruno Preisendörfers Spannungsroman um Schuld und Sühne mit dem Titel "Die Vergeltung" ist bei liebeskind erschienen und kostet Euro 18,90.